• Wie Misstrauen, Kontrollzwang und realitätsferne Gesetze einen Fachkräftemangel in Kliniken erzeugen

    Ausufernde Bürokratie | Beitragszahlungen des Solidarsystems werden schlicht zweckentfremdet
    21.August 2025
    Von Eleonore Zergiebel
    Fachkräftemangel. Es vergeht kaum ein Tag, an dem man dieses Wort nicht hört oder liest. Es könnte schon jetzt von der Gesellschaft für Sprache zum Wort des Jahres 2025 gekürt werden. Fachkräftemangel konstatiert unsere Politik tagtäglich und zugleich beklagen die verantwortlich handelnden Politiker dessen unübersehbare Folgen. Mehrheitlich scheinen auch schon die Bürgerinnen und Bürger von einem überall herrschenden Fachkräftemangel überzeugt zu sein, schließlich erklärt und entschuldigt das Wort sofort alles, was nicht reibungslos läuft. Sich auf Fachkräftemangel zurückzuziehen, Fachkräftemangel als Ursache zu benennen ist zweifelsfrei bequem. Übereilte Gegenmaßnahmen lassen sich medial gut darstellen. Ob aber auch gleich Minister selber zur Anwerbung von Pflegepersonal in der Welt herumfliegen müssen, darf ernsthaft bezweifelt werden, denn es warten hierzulande auf sie doch mehr als genug echte ministerielle Aufgaben auf Lösungen. Es ist traurig, dass derweil in unserem Gesundheitssektor die tatsächlichen Ursachen für den absoluten und relativen Fachkräftemangel ignoriert werden.
    Eleonore Zergiebel lenkt den Blick auf die tatsächlichen Ursachen für den absoluten und relativen Fachkräftemangel.
    Eleonore Zergiebel lenkt den Blick auf die tatsächlichen Ursachen für den absoluten und relativen Fachkräftemangel.

    Kein gesundheitspolitisch Verantwortlicher wollte bisher die wahren Ursachen des „Fachkräftemangels“ sehen oder analysieren, benennen oder geschweige denn beheben. Dabei hat Fachkräftemangel durchaus das Potential das „Unwort“ des Jahres 2025 zu werden.

    Wenden wir uns konkreten Berechnungen zu, denn die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) hat aktuell Zahlen veröffentlicht. Die DKG beziffert die benötigten Vollzeitkräfte (Vollzeitäquivalente), die für die Erfüllung der Leistungsgruppenprüfungen zukünftig erforderlich sein werden.

    Für die Umsetzung des KHVVG - insbesondere der Leistungsgruppen und Vorhaltepauschalen - werden bundesweit beachtliche 5.000 Vollzeitäquivalente mit Mehrkosten von 435 Millionen Euro veranschlagt.

    Damit wurden erstmals die personellen und wirtschaftlichen Auswirkungen eines Gesetzes -hier des KHVVG- auf unsere Krankenhäuser anhand von Zahlen zur Veranschlagung von Vollzeitäquivalenten und deren Kosten präzisiert.

    Bisher hat niemand, kein Gesundheitsökonom, kein Krankenhausbetriebswirt, kein Berater im Gesundheitswesen oder sonstige Tätige der Expertenkommission des vorherigen Bundesgesundheitsministers jemals Zahlen zu diesem „Satellitenwirtschaftszweig“ veröffentlicht. z.B.:

    • VZÄ und Kosten für die Bearbeitung von juristischen Auseinandersetzungen bei Abrechnungsstreitigkeiten;
    • Kosten und VZÄ, die die komplexe Abrechnung nach DRG-Fallpauschalen (jetzt auch für Hybrid-DRG) gewährleisten;
    • Kosten und VZÄ, die sich mit dem Medizinischen Dienst/Krankenkassen in Fallprüfungen auseinandersetzen;
    • Kosten und VZÄ, um die Qualitätsbögen ausfüllen;
    • Kosten und VZÄ, um die Strukturprüfungen, G-BA Richtlinienprüfungen etc. durchzuführen.

    Die von der DKG antizipierte Auswirkung des KHVVG auf die Vollzeitäquivalente kann durch eigene näherungsweise Berechnungen zu folgenden weiteren Bereichen ergänzt werden:

    Beispiel gemittelte Arztstunden im MD Fallprüfungsverfahren:

    Wenn drei Fälle pro Stunde bearbeitet werden können, eine zehnprozentige Prüfquote vorgeschrieben ist und etwa 17.000 Krankenhausfälle im Jahr versorgt wurden, sind also 1.700 Fälle vom MD zu prüfen. Das ergibt stattliche 566 Stunden Bürokratie für einen Arzt.

    Beispiel gemittelte Arztstunden für Strukturprüfung (StrOPS):

    OPS 8-98e Aufwändige Palliativmedizinische Versorgung. Erstantrag: Sechs Mal Besprechung CA etwa jeweils drei Stunden ergibt 18 Stunden Vorbereitung. Die Vor-Ort Prüfung: 1 CA, 1 OÄ dauert nochmals etwa vier Stunden, also acht Arztstunden insgesamt.

    Für den Wiederholungsantrag summieren sich zwei mal drei Stunden Besprechung CA auf sechs 6 Stunden, plus einmal sechs Stunden Besprechung CA = 6 Stunden. Insgesamt stand also ein Chefarzt oder eine Oberärztin 38 Stunden (4-5 Arbeitstage) den Patienten NICHT zur Verfügung (plus Arzt ‚StrOPS Beauftragter‘).

    Beispiel DeQS-RL: QS Bögen:

    Etwa 5.000 Bögen pro Jahr. Pro Bogen werden etwa 5 Minuten benötigt, das ergibt 25.000 Minuten, was wiederum 400 Arbeitsstunden darstellt. Nur der Bogen Dekubitus wird von der Pflege erstellt, alle anderen QS Bögen von Ärzten.

    Werden 17.000 Patientenfälle im Jahr versorgt, fallen 400 Arbeitsstunden an. Bei rund 17.000.000 stationären Patienten in Deutschland pro Jahr frisst die Bürokratie 400.000 Arztstunden in der gesamten Bundesrepublik. Welch eine unverantwortliche Verschwendung von dringend benötigter ärztlicher Expertise in Deutschland!

    Totalversagen der Gesundheitspolitik seit 2003

    Seit die beiden Minister Karl Lauterbach und Ulla Schmidt 2003 die Abrechnung nach Fallpauschalen im Krankenhaus durchgesetzt haben, ist neben einer Misstrauens-Kontroll-Bürokratie eine gigantische Satellitenwirtschaft entstanden, die entscheidend zum Fachkräftemangel im Gesundheitswesen geführt hat:

    Zum einen wurden tausende VZÄ, meistens aus der Pflege oder dem ärztlichen Dienst in administrative Büro-Tätigkeiten verschoben, so dass in der Patientenversorgung ein massiver „brain drain“ stattfand. Das wird sich nun bei der Durchsetzung des KHVVG fortsetzen, somit wird ein absoluter Fachkräftemangel weiter forciert.

    Zum anderen müssen die wenigen, am Patienten verbliebenen Ärztinnen und Ärzte sich mit sinnentleerten Tätigkeiten (MD, StrOPS, QS…) befassen. Das raubt ihnen noch mehr Zeit für ihre Patienten. So wird der relative Fachkräftemangel im Krankenhaus weiter verschärft.

    Wenn dann der Hauptautor des Krankenhaus Rating Reports 2025, Prof. Augurzky, als Lösungsvorschlag zur wirtschaftlichen Schieflage der Krankenhäuser („43 Prozent der Krankenhäuser schlossen 2023 mit einem negativen Jahresergebnis ab“) anführt, die Produktivität in den Kliniken müsse erhöht werden, dann fühlt man sich als Mitarbeiter im Krankenhaus an ‚Schilda‘ erinnert:

    so wie die Schildbürger die Dunkelheit in ihrem fensterlos erbauten Rathaus beheben wollen (einfangen von Sonnenlicht in Mausefallen, Säcken und mit Schaufel und Eimer) so wollen Gesundheitsökonomen die wirtschaftliche Schieflage der Krankenhäuser durch Produktivitätssteigerung ausgleichen.

    Jeder Mitarbeiter im Krankenhaus weiß: die Produktivität eines Krankenhauses zu erhöhen, ist physikalisch genauso machbar, wie das Einfangen von Sonnenlicht zur Erhellung eines fensterlosen Raumes.

    Gesundheitsökonomen und gesundheitspolitisch Verantwortliche sollten stattdessen die Ursachen des absoluten (brain drain) und relativen (Kontroll-Bürokratie) Fachkräftemangels ermitteln und durch die richtigen Maßnahmen beheben (z.B. eine Bundes-Krankenhausplanung nach NRW Vorlage; eine Vorhaltevergütung, die tatsächliche Fixkosten finanziert; Ausgliederung der ärztlichen Personalkosten aus dem DRG System…).

    Ferner ist es die oberste Pflicht eines Ökonomen, die in der florierenden Satellitenwirtschaft versickernden Milliardenbeträge (so z.B. Kosten von juristischen Auseinandersetzungen wegen Abrechnungsstreitigkeiten, Kosten für Abrechnungs- IT, Kosten für externe Dienstleister im Abrechnungsprozess, Beratungskosten zur praktischen Umsetzung von Gesetzen…) zu erfassen, um Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.

    Denn diese finanziellen Aufwendungen werden vom Beitragszahler aufgebracht, stehen aber nicht seiner Behandlung und medizinischen Versorgung zur Verfügung. Beitragszahlungen in einem Solidarsystem werden schlicht zweckentfremdet und stehen einer auskömmlichen Finanzierung des stationären Behandlungssektors nicht mehr zur Verfügung. Es darf nicht länger von der verantwortlichen Politik missachtet werden, dass genau hier der primäre Ansatz zur Sanierung der Finanzen liegt, nicht in einer Steigerung - einer wie auch immer definierten - Produktivität im Krankenhaus.

    Zur Autorin:

    Von Eleonore Zergiebel ist Fachärztin für Innere Medizin. Sie ist Mitglied des Landesvorstandes des Marburger Bundes NRW/RLP und Delegierte on der MB-Fraktion in der Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein.