• Rechtzeitig palliativ denken (Teil 4)

    Essenzielle Fakten, Neuigkeiten, kleine Interviews, Humorvolles. Standards zur Palliativversorgung.

    Im Teil 4 der Artikelserie lesen Sie das Interview mit PD Dr. Martin Neukirchen über die Schnittstelle zwischen Palliativversorgung und Rettungsdienst.

    Kritische Schnittstelle zwischen Palliativversorgung und Rettungsdienst

    EIN DILEMMA

    Angehörige sind überfordert mit der häuslichen Betreuung eines Schwerstkranken. Es ist Zeit für den Wechsel in ein Hospiz. Aber dann …

    Foto: PD Dr. Martin NeukirchenKennen Sie das? Frau Müller ist 94 Jahre alt, multimorbid. Unter hausärztlicher Palliativversorgung gelang die Symptomkontrolle gut, aber die Familie dekompensiert zunehmend. Sie kann die Pflege auch mit Unterstützung durch Pflegedienst, ambulanten Hospizdienst und schließlich der SAPV nicht mehr allein stemmen. Deswegen will Frau Müller aufgrund zunehmender Symptomlast ins Hospiz für ihre letzten Lebenswochen. Unerwartet kommt die gute Nachricht: Ein Hospizbett nur 10 km entfernt ist freigeworden. Ein Bewohner dort ist friedlich gestorben, ein anderer kann einziehen. Die Krankenkasse bestätigt umgehend die Kostenübernahme.

    Ein Krankentransportwagen holt Frau Müller mit leidlich stabilen Kreislaufverhältnissen ab. Für die Rettungssanitäter gibt es die schriftliche, klare Anweisung: „DNR. DNI. Keine Klinikeinweisung.“ So ist es ja auch schon seit Monaten von Frau Müller eindeutig verfügt worden. Und dann kommt es unter dem Stress des Krankentransportes doch zur kardialen Dekompensation. Die Rettungssanitäter wissen sich nicht anders zu helfen, sind über die Rechtslage völlig unsicher. Frau Müller wird statt ins Hospiz in das Klinikum der Maximalversorgung verbracht und stirbt dort nach einem Tag intensiver Behandlungsversuche an der Beatmung ...

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    » Für die MBZ sprach Dr. ­Tomas Sitte unter anderem zu diesem Dilemma mit PD Dr. Martin Neukirchen, Leitender Arzt des Zentrums für Palliativmedizin der Universitätsklinik Düsseldorf.

    Bild: Thumbnail blaue Sprechblase mit weißem FragezeichenKollege Neukirchen, Sie engagieren sich als Palliativmediziner besonders auch für die Schnittstelle von Rettungsdienst und Palliativversorgung. Warum?

    Dr. Martin Neukirchen: Ich bin leidenschaftlich gerne Notarzt und Palliativmediziner und ich habe leider viel Übertherapie am Lebensende erlebt. Je erfahrener ich als Notarzt wurde, umso häufiger habe ich mich getraut, Patienten ambulant zu behandeln und nicht mitzunehmen. Dies habe ich erst nicht gewagt, weil es immer hieß: „Da, wo du hinfährst, musst du auch ins Krankenhaus mitnehmen, um dich rechtlich abzusichern“. Bei ca. 10 bis 15 Prozent der Rettungsdiensteinsätze werden palliative oder sterbende Patienten behandelt. Sie sind in der Regel am besten zu Hause aufgehoben. Insofern macht dann auch eine symptomlindernde Behandlung vor Ort Sinn. Hierzu sollten alle im Rettungsdienst befähigt werden.

    Bild: Thumbnail blaue Sprechblase mit weißem FragezeichenWie soll das gehen?

    Neukirchen: Natürlich wäre es vor Ort wertvoll, für die Zeit nach dem Rettungsdienst Palliativversorgung hinzuziehen zu können. Gelegentlich gibt es auch Palliativpatienten, die man aufgrund mangelnder Versorgung vor Ort oder nicht ausreichend linderbarer Symptomlast mit ins Krankenhaus nehmen muss. Dann ist es umso wichtiger, dass es schon in der Notaufnahme z. B. durch einen palliativmedizinisch erfahrenen Arzt oder einen spezialisierten Palliativdienst ein palliativmedizinisches Basisassessment gibt. Dazu gehört auch die ­Klärung des Therapieziels für den nächsten Rettungsdienst­einsatz. Sollte der Patientenwille nicht in einer Patientenverfügung festgelegt sein, sollte sie oder zumindest ein Notfallausweis erstellt werden.

    Bild: Thumbnail blaue Sprechblase mit weißem FragezeichenWoran mangelt es aus Ihrer Sicht? Was ist jetzt für uns zu tun?

    Neukirchen: Ich glaube es mangelt in erster Linie an palliativmedizinischer Kompetenz bei Notärztinnen und Notärzten, Rettungsdienst- und Leitstellenpersonal sowie in den zentralen Notaufnahmen. Wir müssen also dafür sorgen, dass alle in der Rettungskette Tätigen eine palliative Basisausbildung erhalten. Ein deutschlandweit verfügbarer und einheitlicher Notfallausweis wäre ebenfalls sehr hilfreich.

    Außerdem gibt es in Deutschland nach wie vor viel zu wenig spezialisierte Palliativdienste in den Krankenhäusern, gerade für die Notaufnahmen, aber auch für die Intensivstationen. Wir müssen mutiger werden, auch in der Notfallmedizin, Übertherapie am Lebensende zu vermeiden. Das Geld, das hierbei eingespart wird, sollte in einen Ausbau der palliativmedizinischen Ressourcen sowie in unser finanziell ohnehin angeschlagenes Gesundheitssystem gesteckt werden.

    Bild: Thumbnail blaue Sprechblase mit weißem FragezeichenImmer wieder höre ich, wenn der Patient im Rettungswagen ist, müsse man „das volle Programm abspulen“. Können Sie in wenigen Sätzen erklären, wie die Rechtslage für Notärzte und auch das Rettungsdienstpersonal ist?

    Neukirchen: Auch in der Notfallmedizin braucht es eine Indikation durch den Arzt! Nur dann können Patienten oder deren gesetzliche Vertreter einer Maßnahme zustimmen oder sie auch ablehnen. Wir in Düsseldorf haben mit dem Rettungsdienst die Vereinbarung, dass das im Düsseldorfer Notfallausweis dokumentierte Therapieausmaß nicht überschritten wird.

    Bild: Thumbnail blaue Sprechblase mit weißem FragezeichenDer Notfallausweis ist eine tolle Sache. Er wird aber selten eingesetzt. Nehmen wir einen konkreten Fall: Patientin Lieschen Müller ist eine 84-jährige, COPD (Gold IV)-Patientin mit Erstickungsanfällen. Samstagabend um 22 Uhr kommen Sie als Notarzt hin, wenn kein Palliativmediziner greifbar ist. Was kann jetzt schon getan werden?

    Neukirchen: Wir Ärztinnen und Ärzte haben die Aufgabe, Gesundheit zu erhalten, Krankheiten zu heilen, Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. Das gilt auch im Rettungsdienst.

    Lieschen Müller könnte zum Beispiel Morphin bekommen, um die Atemnot zu lindern. Außerdem sollte eine ambulante Palliativversorgung initiiert werden, sofern nicht schon geschehen.

    Bild: Thumbnail blaue Sprechblase mit weißem FragezeichenKennen Sie kreative Lösungsansätze, die eine einfache Blaupause für andere Regionen sein könnten?

    Neukirchen: Ich weiß, dass zum Beispiel in Prag schon beim Anrufen der 112 und erfüllten Triggerfaktoren wie dem Vorliegen einer chronischen Erkrankung oder einer metastasierten Tumorerkrankung von den Leitstellendisponenten anhand weniger Fragen auf palliativmedizinischen Bedarf gescreent wird und dann Palliativteams hinzugezogen werden. So ist es dort gelungen, dass nur 50 Prozent der Patienten noch ins Krankenhaus gebracht werden müssen. Das ist ein echter Erfolg!

    Bild: Thumbnail blaue Sprechblase mit weißem FragezeichenWenn Sie sich etwas wünschen können, wie müsste die Notfallversorgung dann für Frau Müller in Deutschland geregelt sein?

    Neukirchen: Die Notfallversorgung müsste individuell und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sein. Wir haben eine schnell verfügbare Notfallversorgung. Diese müsste bei einer zunehmend alternden Gesellschaft dringend auch über palliativmedizinische Kompetenz verfügen. Hier könnte auch Telemedizin superhilfreich sein.

    Vielen Dank für diese wertvollen Hinweise!­

    PD Dr. Martin Neukirchen ist Leitender Arzt des Zentrums für Palliativmedizin der Universitätsklinik Düsseldorf (martin.neukirchen@med.uni-duesseldorf.de). / Foto: Privat

    Im schnellen Überblick
    • Ärztliche Indikation: Eine Therapie darf Patienten nur ­angeboten werden, wenn sie nach ärztlicher Indikation sinnvoll ist.
    • Patientenwille: Der Patient entscheidet, ob er eine Behandlung wünscht oder nicht.
    • Patientenverfügung: Dort wird festgelegt, wann, was, wie behandelt werden soll. Patientenverfügungen sind prinzipiell rechtlich bindend, aber leider nach wie vor oft von mäßiger Qualität. Hier kann professionell begleitetes Advance Care Planing (ACP) helfen.
    • Notfallausweis: Es gibt in Deutschland verschiedene Vorschläge für Behandlungsanweisungen in einer Notfallsituation. Ein Beispiel dafür ist die Palliativ-Ampel der Deutschen Palliativ Stiftung oder der Düsseldorfer Notfallausweis.