• Rechtzeitig palliativ denken (Teil 6)

    Essenzielle Fakten, Neuigkeiten, kleine Interviews, Humorvolles. Standards zur Palliativversorgung.

    Um das Thema Schmerzmedikation geht es im 6. Teil unserer Artikelserie zur Palliativmedizin. Der Leserbrief einer Kollegin zur palliativmedizinischen MBZ-Serie soll im Folgenden Anlass zu einer kritischen Betrachtung des Umgangs mit starken Schmerzmitteln sein, aber auch deren Möglichkeiten beleuchten.

    Opioidkrise, Über- oder Unterversorgung?

    SCHMERZMEDIKATION

    Die älteren Kolleginnen und Kollegen werden sich noch erinnern: Als Ende der 1980er Jahre retardiertes Morphin erstmals auf den Markt kam, war dies ein Durchbruch in der Behandlung unserer schwerstleidenden Palliativpatienten. Bis dahin war im Wesentlichen nur Morphin als Tropfen zum Einnehmen oder als Ampullen verfügbar. Die Wirkdauer von Morphin oral beträgt vier bis maximal sechs Stunden.

    Viel zu oft wurde die ersehnte Schmerzlinderung viel zu selten gegeben. So war die Behandlung meist ein Auf und Ab für die Patienten zwischen unerträglichem Leiden und milder Überdosis.

    Eine weitere große Erleichterung für die Versorgung Sterbenskranker war in den 1990ern dann das erste Opioidpflaster. Doch bis vor gut zehn Jahren hörten Patienten oftmals von Ärzten und Apothekern: „Was, ist es schon so weit?“, „Das macht doch süchtig!“ oder „Wenn Sie Morphin dann wirklich brauchen, hilft es nicht mehr.“ Diese Zeit ist zum Glück vorbei.

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    Aber wie so oft verlaufen Entwicklungen aus vielen Gründen wellenartig, mit einer großen Schwankungsbreite von zu wenig und zu viel. Und oft sind solche Wellen auch durch Werbung und andere Einflussnahmen mit getriggert. Wenn es um die Zusammenarbeit von Ärzten und Industrie geht, dann sind „wir“ Ärzte so wenig stets die Guten, wie „die“ Firmen immer die Bösen sind. Wichtig ist und bleibt die Transparenz in der Kooperation!

    Selbstverständlich ist es zu begrüßen, dass Betäubungsmittel nicht wie die Kamellen beim Kölner Rosenmontagsumzug verteilt falsch eingesetzt werden oder in die falschen Hände kommen. Aber die Regulatorik kann zugleich ein Hindernis für die angemessene Verfügbarkeit und angemessene Anwendung sein.

    Prof. Carlos Centeno, Navarra, zeigt mit dem ATLANTES Global Observatory of Palliative Care eine gute Übersicht über die weltweite Verfügbarkeit oder Nicht-Verfügbarkeit von Palliative Care und der notwendigen Medikamente.

    Aber auch in Deutschland gibt es große Probleme. Nur weniger als die Hälfte der Ärzte besitzt überhaupt BtM-Rezepte. Das gilt gerade auch im ärztlichen Notfalldienst.

    Bei einer Heim- und Hausbesuchstätigkeit können nur schnellwirksame BtMs auf Kosten der Krankenkassen im Notfall dem Patienten überlassen werden, wenn die Apotheke nicht schnell genug liefern kann. Retardierte Schmerzmittel sind kein Sprechstundenbedarf.

    Pflegeheime könnten zwar seit 2012 einen Vorrat an BtM für ihre Patienten bereithalten. Das ist aber kaum bekannt. Die Vorschriften dazu sind zudem außerordentlich kompliziert in der täglichen Arbeit umzusetzen. Und bei Fehlern droht keine Geldstrafe, sondern Freiheitsentzug bis zu fünf Jahren.

    Stein Husebø, einer der großen Vordenker und Vorkämpfer für die Palliativmedizin, hat eine Qualitätskontrolle für eine gute medikamentöse Versorgung einmal auf den Punkt gebracht. Wenn man retrospektiv sehen möchte, ob die Behandlung am Lebensende in einer Einrichtung angemessen ist, soll man die Medikamentenpläne des letzten Lebenstages erfassen.

    Wurden am Lebensende häufig Diuretika nicht abgesetzt und nur selten ein Opioid zumindest als Bedarf angesetzt, war die Behandlung eher unangemessen. Wurden Diuretika rechtzeitig abgesetzt und Opioide (niedrig dosiert) angesetzt, war die Palliativversorgung eher angemessen.

    Dosis fecit venerum – die Dosis macht das Gift, wussten unsere altvorderen Kollegen schon vor Tausenden von Jahren. Ein Fehlgebrauch oder Missbrauch ist immer ein Problem. Deswegen gilt es, Opioide – wie alle anderen Medikamente – stets mit Verstand zu verordnen und auch immer wieder kritisch zu hinterfragen!

    Zum MBZ-Artikel Palliativmedizin in den Universitäten "Lehr- oder Leerstühle — da geht noch mehr!"

    LESERBRIEF

    Nur ca. 15 Prozent der Krankenhäuser in Deutschland halten eine Palliativstation vor. Dem Wunsch des Autors der Palliativversorgung mit neu zu gründenden und vor allem eigenständigen Lehrstühlen mehr Nachdruck zu verleihen, ist daher wichtig. Es ist zu hoffen, dass dieses Anliegen in die Planung der weiteren Gesundheitspolitik aufgenommen wird. Der Artikel führt an, dass in Deutschland der erste Lehrstuhl für Palliativmedizin als Sackler-Stiftungsprofessur eingerichtet wurde. Im Kontext erscheint dies ausschließlich positiv. Die Schattenseite zur Herkunft des Vermögens, dass diese Stiftung der Familie Sackler erst ermöglichte, wird nicht beleuchtet.

    Die Mitglieder der Sackler-Familie und ihr Pharmakonzern Purdue haben in den USA mit einer aggressiven Vermarktung des opioidhaltigen Schmerzmittels OxyContin eine katastrophale Suchtepidemie ausgelöst. [...]

    Auch wenn im Vergleich zu den USA das deutsche Betäubungsmittelgesetz einen viel besseren Schutz vor unsachgemäßem Gebrauch bietet, wird die Problematik auch hier ankommen. Daher sei allen Medizinstudierenden und wachen „palliaktiven“ Köpfen das Buch von Patrick Radden Keefe „Imperium der Schmerzen – wie eine Familiendynastie die weltweite Opioid-Krise auslöste“ empfohlen. Es gibt Einblick in die Familiengeschichte, in die bestechende Werbestrategie und in die juristischen Winkelzüge, um einer Verurteilung zu entgehen. Wem dies mit über 600 Seiten und exzellenten Quellenangaben zu lang ist, kann Informationen im Netz finden, z. B. „Deutsche Millionen für US-Pharma-Dynastie“, ZDF vom 17.9.2024.

    Dr. Ursula von Gierke, München, Fachärztin für Innere Medizin, Tropenmedizin und Infektio­logie, Beraterin, Koordinatorin, Trainerin für Ethik in der Medizin (AEM)