• Rechtzeitig palliativ denken (Teil 7)

    Essenzielle Fakten, Neuigkeiten, kleine Interviews, Humorvolles. Standards zur Palliativversorgung.

    In der Palliativversorgung gilt es ähnlich wie in der Notfallmedizin immer wieder zügig zu handeln. Auch kann es im wahrsten Sinne um Leben und Tod gehen. Schweres Leiden kann nicht selten auch schnelles Handeln erfordern.

    Schwere Symptomlast – beherzt handeln!

    DER PATIENT IM MITTELPUNKT

    Ortsschild "Dem Leben mehr Tage geben UND den Tagen mehr Leben!"

    Sicherlich kennen Sie solche Fälle in ähnlicher Form, denn sie sind aus dem wirklichen Leben, wenngleich natürlich etwas verfremdet, um die wirklichen Menschen nicht erkennen zu können:

    Fall 1: Atemnot. Frank Müller liegt seit Tagen auf der Normalstation. Er ist 54 Jahre alt und hat aufgrund einer schweren COPD eine re­spiratorische Globalinsuffizienz. Herr Müller ist „austherapiert“. Er hat eine CPAP-Maske, der Sauerstoff läuft auf 6 Liter pro Minute. Als Sie dazu kommen, hat Herr Müller vor Todesangst die Augen weit aufgerissen. Der kalte Schweiß rinnt in Strömen von der Stirn. Der Herzschlag rast mit rund 140 Schlägen pro Minute, die Sauerstoffsättigung liegt bei 58 Prozent und der Atem fliegt 52-mal in der Minute. Die Angehörigen flehen: „Bitte tun Sie was! Schnell! Frank erstickt!“

    Sie ziehen eine Ampulle Diazepam in einer 20er-Spritze auf. Das ist auf der Station sofort und ohne BtM-Schrank-Schlüssel verfügbar, Sie verdünnen diese mit NaCl 0,9 Prozent (das ist nicht ganz lege artis, aber im Notfall schnell möglich, man kann die Emulsion fein titriert intravenös dosieren). Sie legen rasch eine venöse Verweilkanüle als sicheren Zugang und geben 2 Milliliter (= 1 Milligramm) Diazepam. Dreißig, sechzig Sekunden später sagt Herr Müller: „Das ist gut.“

    Die Augen fallen Herrn Müller zu, er stirbt. Sie selbst sind schockiert und denken, was haben Sie falsch gemacht.

    1
    » Artikel "Schwere Symptomlast – beherzt handeln!" weiterlesen

    Fall 2: Schmerzen. Oder sie werden zur Patientin Frieda Schmitt mit ihren unerträglichen Schmerzen gerufen. Frau Schmitt ist 78 Jahre alt. Aufgrund eines Multiplen Myeloms hat sie Knochenschmerzen, Verschiedenes wurde hier in den letzten drei Wochen versucht. Nichts hat so richtig geholfen. Jetzt sind es die Schmerzen, die Frau Schmitt schier in den Wahnsinn treiben. Bislang hat sie ein 12er Fentanylpflaster und dreimal 600 mg Ibuprofen.

    Sie holen sich Morphin aus dem Stationszimmer und spritzen 5 mg in die liegende Verweilkanüle. Nichts passiert. Nach 5 Minuten geben Sie die zweite Dosis von 5 mg Morphin. Nichts wird besser. Weitere 5 Minuten später geben Sie 10 mg und dann noch einmal 10 mg. Insgesamt 30 mg Morphin intravenös in 20 Minuten. Mutig? Zu mutig? Frau Schmitt wird ruhiger, ihre Anspannung lässt nach. Sie können wieder gut mit ihr sprechen oder besser, sie kann wieder gut mit Ihnen sprechen. Und was sagt sie als Erstes? Dank? Nein, sondern voller Ärger und Verzweiflung: „Warum hat das vorher niemand gegeben?“ Sie wissen nun, wieviel Opioid Frau Schmitt etwa braucht. Sie geben noch etwas Dexamethason dazu und Frau Schmitt bleibt schmerzfrei. Aber: Sie will nicht mehr leben. Sie hat das Vertrauen in die Medizin verloren, lehnt Essen, Trinken, Gespräche, andere Medikamente ab. Sie bleibt klar, nicht sediert, völlig wach und stirbt nach neun Tagen schmerzfrei.

    Das sind wirkliche Fälle aus meinem beruflichen Alltag. Sie kommen so ausgeprägt zum Glück nicht zu häufig vor. Was war geschehen? Was lief hier vielleicht falsch? Körperliche Schmerzen, körperlich bedingte Atemnot können wir im Notfall relativ leicht behandeln. Das wird im Rettungsdienst alltäglich gemacht und das geht – wenn notwendig – analog in der Palliativversorgung. Bei Herrn Müller mit der Atemnot wären zwar Opioide, also Morphin intravenös oder auch Fentanyl nasal leitliniengerecht Mittel der ersten Wahl gewesen. Beides hätte vermutlich genauso und genauso schnell gewirkt. Atemnot lässt sich in der Regel relativ leicht mit niedrigen Dosen eines Opioides oder Benzodiazepins behandeln (siehe Palliativseite in der MBZ vom Oktober 2024, S. 9). Aber warum starb Herr Müller so plötzlich nach der Gabe von nur 1 mg Diazepam? Er wurde zu spät behandelt!

    Herr Müller war zu lange zu hypoxisch, vermutlich auch hyperkapnisch. Der Stress im Todeskampf hat das Adrenalin maximal ausgeschüttet. Ein wenig Diazepam lindert binnen kürzester Zeit die Atemnot und der Stress fällt ab, mit ihm das Adrenalin, das nicht mehr exprimiert und schnell abgebaut wird, in der Folge bricht der Kreislauf zusammen …

    Natürlich hätte man Herrn Müller in dieser Situation wohl durch Intensivmaßnahmen retten können. Aber eine Intensivtherapie hatte er zuvor, mündlich, schriftlich und eindeutig abgelehnt.

    Wäre Herr Müller Stunden oder noch besser Tage vorher angemessen behandelt worden, hätte er sicher deutlich länger und viel besser gelebt. Deswegen kann nur immer wieder betont werden: Die rechtzeitige Integration von Palliativversorgung schenkt den Tagen mehr Leben und dem Leben mehr Tage.

    Bei Frau Schmitt liegt der Fall völlig anders. Sie war lange schon erschöpft durch die Unterversorgung ihrer schweren Schmerzen. Sie war emotional ausgeblutet und auch enttäuscht in ihrem Vertrauen in die moderne Medizin. Das ist ein Problem, dem man in der Palliativversorgung auch heute noch immer wieder begegnet. Patienten leiden auch bei sehr hoher Symptomlast aus den verschiedensten Gründen oftmals viel zu lange. Obwohl leitliniengerecht die Beschwerden behandelbar sind. Das gilt gerade auch für die Einstellungsphase oder die Behandlung von Durchbruchschmerzen, die nicht selten zu zögerlich erfolgt.

    Nach den Zulassungen dürfen alle schnellwirksamen Opioide erst nach einem Intervall von vier Stunden wiederholt werden. Das ist wirklichkeitsfern. Bei einer Wirkdauer von vier bis sechs Stunden für Morphin und weniger als einer Stunde für Fentanyl kann so kaum je durch kumulative Ti­tration eine effektive Wirkdosis bei Neueinstellung oder in der Akuttherapie ausreichend rasch erreicht werden.

    Deswegen schlagen die meisten Lehrbücher für Palliativmedizin auch ein Lock-out-Intervall zwischen den Einzeldosen bei einer oralen Akuttherapie mit Morphium von einer Stunde und für intravenöses Morphin oder nasales Fentanyl von fünf oder zehn Minuten vor. Besteht bereits eine Basistherapie mit einem Retard-Opioid, so orientiert man sich mit der Einzelgabe meist an der Vier- bis Sechs-Stunden-Dosis der Basistherapie.

    Bestimmung schnellwirk­samer Opioidgabe

    Tagesdosis Basistherapie (Retard-Opioid)

    • Morphin p. o. 60–90 mg/d (20–30 mg i. v.)
    • Oxycodon p. o. 30–45 mg/d
    • Hydromorphon p. o. 8-12 mg/d
    • Fentanyl transdermal 25 mµg/h
    • Buprenorphin transdermal 35 mµg/h


    Escape-Dosis (Schnellwirksames Opioid)

    Einzeldosis (mit Intervall bis zur gewünschten Besserung)

    • Morphin p. o. 10 mg, maximal alle 60 min
    • Morphin s. c. 3 mg, maximal alle 60 min
    • Morphin i. v. 3 mg, maximal alle 2–5 min
    • Oxycodon p. o. 5 mg, maximal alle 60 min
    • Hydromorphon p. o., 1,3 mg, maximal alle 60 min
    • Fentanyl nasal 100 mµg/Hub, maximal alle 5–10 min
    TIPPS
    • Buprenorphin ist wegen der langen Wirkdauer eher ungeeignet für die Akuttherapie.
    • Jedes Opioid, besonders als Escape-Dosis, kann sedieren und den Atemantrieb dämpfen. Die Atemfrequenz sollte deshalb zur Sicherheit bei der Gabe um die 20 Schläge pro Minute liegen und nicht unter 10 pro Minute.
    • Grund der Gabe und Atemfrequenz dokumentieren.
    • Morphin intravenös wirkt dreimal stärker als oral.
    • Nasales Fentanyl wirkt etwa so schnell wie intravenöses Morphin.
    • Prinzipiell können alle Opioide kombiniert werden, auch Buprenorphin und Fentanyl.
    • Intramuskuläre Gaben in der Palliativsituation sind obsolet, entweder intravenös oder subkutan geben.
    • Gibt man intranasale Dosen in zu kurzen Abständen und zu viele Hübe, werden diese schlecht resorbiert.
    • Zu kurze Abstände oraler oder subkutaner Dosen können eher zu unerwünschter Überdosierung führen.
    • Nicht Behandlung von Leiden ist Körperverletzung!