„Sie können meine Mutter doch nicht verhungern und verdursten lassen!“
AM ENDE DES LEBENS
Von Dr. Thomas Sitte
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in das Thema einsteigen, möchte ich mich für Ihre Zuschriften bedanken. Wir bekommen immer wieder positive Rückmeldungen, dass den Lesern die Serie gefällt. Gerne hören wir aber auch, was fehlt oder was wir besser machen könnten. Sie gefällt, weil insbesondere Inhalte gebracht werden, die für Ihre tägliche Arbeit wertvoll sind, so wie hoffentlich auch im folgenden Beitrag.
Vielleicht haben Sie dies genau so oder ähnlich schon einmal von Angehörigen sterbenskranker Menschen gehört: „Sie können meine Mutter doch nicht verhungern und verdursten lassen!“ In der Palliativversorgung ist dies immer wieder Anlass für schwierige Diskussionen.
Es handelt sich dabei um ein sehr emotional besetztes Thema: Essen und Trinken hält bekanntlich Leib und Seele zusammen. Das macht man zur Feier einer Geburt, Vermählung oder eines Todesfalles. Eigentlich zu jedem Anlass, der wichtig im Leben eines Menschen ist.
Beim Essen geht es um mehr als Kalorien und Nährstoffe, die für uns natürlich lebenswichtig sind. Da geht es um Überlebensnotwendiges für uns Menschen: Nähe, Austausch, Gemeinschaft, Gemeinsam lachen, weinen, leben.
Geht es um die Ernährung in schwerer Krankheit, so scheint leider eine traurige Regel zu gelten: „Am Anfang zu wenig. Am Ende zu viel.“
Wenn ein Mensch krank, alt, müde wird, ist es wichtig, dass die Muskeln erhalten bleiben und die Organe ordentlich arbeiten. Sarkopenie ist immer mit einer höheren Morbidität und verbunden. (Siehe z. B. Kraus, D. Orthop Rheuma 27, 57 (2024).) Dabei mangelt es gerade den Kranken meist an ausreichender Nahrungsaufnahme, Kalorien, Vitaminen, Nährstoffen, Spurenelementen – und natürlich an Bewegung. Auch unter belastenden Therapien neigen wir Ärzte dazu, dass die Patienten sich lieber mehr schonen sollten. Allerdings nutzt eine normokalorische, nährstoffbilanzierte Ernährung wenig, wenn der Patient sich nicht aktiv bewegt.
Ein großes Dilemma für alle Beteiligten
Ich kenne es aus meiner Zeit als Krankenpfleger, dass meine Patienten zum Beispiel nach einem Herzinfarkt wochenlang das Bett hüten und Schonkost essen mussten. Eine Früh-Reha wäre undenkbar gewesen. Das ist heute grundlegend anders, leider mögen und können schwächer werdende Patienten nicht mehr die (Willens-)Kraft zur Bewegung aufbringen.
Am Lebensende wird schließlich gut gemeint insbesondere im klinischen Umfeld munter drauflos künstlich bewässert und oft auch versucht, normokalorisch zu ernähren, obwohl der Patient dies nicht mehr, von sich aus einfordert. Gut gemeint schadet hier mehr als es nutzt. Das Sterben kann dadurch deutlich leidvoller werden. Die sogenannte „Basisinfusion“ mit 500 bis 1.000 ml NaCl 0,9 % pro Tag beim Sterbenden ist meistens völlig falsch, auch wenn sie in vielen Krankenhäusern leider noch üblich ist.
Natürlich. Jeder Abschied ist schwer. Der Abschied nach einem gemeinsamen Mahl kann es sein. Der Abschied vom gemeinsamen Leben ist es ganz besonders.
Doch wenn ein Mensch am Ende seines Lebens nicht mehr essen und nicht mehr trinken mag, verhungert und verdurstet er in der Regel nicht. Er macht es so wie jedes Haustier, wenn dessen Lebenskreis sich vollendet, kann man den Angehörigen gut erklären. Der liebe Gott oder auch die Natur haben es so eingerichtet, dass durch den Mangel an Nahrung und Flüssigkeit im Körper Stoffe freigesetzt werden, die den großen Übergang leichter machen: Endorphine, Endocannabinoide und vieles mehr, Glückshormone eben. Lesen Sie dazu auch den Text: „Vor dem Tod kommt erst einmal das Leben!“ unten links im Kasten.
„Kunst der Ernährung oder künstliche Ernährung“
So hat Don Andrea Giucci, Priester und Kochbuchautor, einmal einen Vortrag in der Päpstlichen Akademie für das Leben getitelt.
In der Tat, aus meiner Sicht hat beides seine Berechtigung, beides zur rechten Zeit und zeitweise auch gleichzeitig und überlappend. Es gibt eine ausgesprochen praxisrelevante S3-Versorgungsleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin zur heimenteralen und heimparenteralen Ernährung https://www.dgem.de/sites/default/files/PDFs/Leitlinien/S3-Leitlinien/07a_Leitlinie_DGEM_Online-PDF_watermarked.pdf.
Die eindeutige Kernaussage ist die Aufforderung, rechtzeitig situationsangemessen und ausreichend Nahrung zu supplementieren, wenn oder besser noch bevor die Patienten krankheits- oder gar therapiebedingt in eine Kachexie kommen. Bei bestimmten Erkrankungen kann eine heimenterale Ernährung (HEE) via PEG (perkutane endoskopische Gastrostomiesonde) oder ein Button oder eine heimparenterale Ernährung (HPE) mittels Port oder getunnelten Zentralvenenkatheter über Monate und Jahre erfolgreich durchgeführt werden.
Viele Angehörige fragen nach „Astronautenkost“ zum Trinken, wenn das Essen immer schwerer fällt. Dazu muss man wissen, dass diese bilanzierten Lösungen nur bei normokalorischer Gabe ausreichend Vitamine und Spurenelemente enthalten. Bei kleinen Mengen müssten diese extra supplementiert werden.
Insbesondere in der Palliativversorgung sollte das Ziel sein, zur rechten Zeit angemessen zu ernähren, diese Ernährung rechtzeitig anzupassen, zu reduzieren und irgendwann auch nicht mehr fortzuführen. Eine gute Mundpflege wird dann wichtiger als Ernährung wider Willen.
Wenn der Patient nicht mehr aktiv darum bittet, keinen Hunger und keinen Durst empfindet, dann darf und sollte man darüber nachdenken, der Natur ihren Lauf zu lassen. Spürt der Patient am Lebensende keinen Hunger und keinen Durst, verhungert und verdurstet er auch nicht!
Solange es geht, ist „natürliche“ Ernährung der Goldstandard.
„Als mir der frisch gemixte Erdbeershake gebracht wurde, stieg mir der Duft von frischen Erdbeeren in die Nase. Plötzlich tauchten die Bilder wieder auf, wie ich als Kind mit meiner Mutter im Erdbeerfeld stand – ein Gefühl von Geborgenheit und Ruhe.“
Nur ein Hauch eines Duftes oder Geschmacks ist nötig, um in uns in Sekundenbruchteilen Erinnerungen aus der Vergangenheit wachzurufen und so lebendig erscheinen zu lassen, als wäre es erst gestern gewesen. Solche Erinnerungen – gepaart aus Sinnesreizen und Emotionen – sind in unserem Gedächtnis gespeichert. Ermöglicht wird dies durch eine direkte Verbindung zwischen Geruchsnerven und dem limbischen System, einem entwicklungsgeschichtlich sehr alten Bereich des Zwischenhirns. Das limbische System speichert diese Ereignisse nicht nur ab, es sorgt auch für die Ausschüttung von Endorphinen, also körpereigenen Glückshormonen.
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Essbiografie
Die Sektion Ernährung in der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) hat für diesen Zweck einen Gesprächsleitfaden zur Essbiografie und eine Genussampel erstellt. Beide Dokumente sowie eine Handreichung zum Gesprächsleitfaden sind als kostenloser Download auf der Website der DGP verfügbar.
Dr. oec. troph. Maike Groeneveld; Dr. Maria Bullermann-Benend, Sprecherinnen der Sektion Ernährung DGP
Auszug aus dem aktuellen Magazin „schöner leben …“.
Die Ausgabe ist kostenfrei erhältlich bei der Deutschen PalliativStiftung oder zum Download unter schoener-leben.info
Besser als Wattestäbchen ist einfach selbst herzustellende Zitronenbutter. Etwas Butter, ein paar Tropfen frischer Zitronensaft, bei Zimmertemperatur mischen. Damit die Lippen und gerne auch die Mundschleimhaut bestreichen.