Frau Siems, wir freuen uns, Sie kennenzulernen! Erzählen Sie uns etwas über sich. Was hat Sie zur Medizin gebracht und warum möchten Sie Ärztin werden?
Vielen Dank, ich freue mich sehr über die Möglichkeit, mich vorzustellen. Ich bin 28 Jahre alt und studiere derzeit im 6. Semester Humanmedizin an der Universität Oldenburg. Mein Weg in die Medizin ist eng mit meiner persönlichen Lebensgeschichte verknüpft. Aufgewachsen bin ich in einem familiären Umfeld, das von Fürsorge, Krankheit, aber auch von außergewöhnlicher Stärke geprägt war.
Meine Mutter, die als Pflegedienstleitung mit palliativer Fachweiterbildung tätig war, war für mich beruflich wie menschlich ein großes Vorbild. Als sie 2021 plötzlich verstarb – nur wenige Monate nach dem Tod meines Großvaters – hat sich mein Leben grundlegend verändert. Seitdem kümmere ich mich um meine heute 15-jährige Schwester, die unter meiner Vormundschaft steht. Gleichzeitig unterstütze ich meine Großmutter und meinen Vater, die beide auf Hilfe angewiesen sind.
Vor dem Studium habe ich eine Ausbildung zur Notfallsanitäterin abgeschlossen – ein Beruf, in dem ich als junge Frau oft gegen Vorurteile ankämpfen musste. Es war aber auch eine Zeit, in der ich im Rahmen der Verantwortung, die ein solcher Job mit sich bringt, an mir selbst gewachsen bin. Auch heute noch bin ich dem Rettungsdienst verbunden: Ehrenamtlich engagiere ich mich beim Deutschen Roten Kreuz und arbeite als Notfallsanitäterin in meinem Ausbildungsbetrieb auf geringfügiger Basis. Es ist mir ein Anliegen, mich auch außerhalb des Studiums für Menschen in Not einzusetzen.
Heute bin ich nicht nur Medizinstudentin, Tutorin, Ehrenamtliche beim DRK, Vormund – sondern auch Mutter. 2024 wurde meine Tochter geboren. Die Vereinbarkeit von Mutterschaft, familiärer Verantwortung und einem anspruchsvollen Vollzeitstudium erfordert nicht nur Disziplin, sondern auch tiefe innere Überzeugung.
Die Kombination aus medizinischem Wissen, menschlicher Nähe und Verantwortung ist für mich der Kern ärztlichen Handelns – genau das möchte ich in meinem späteren Beruf leben. Und ich versuche, diese Werte schon jetzt so gut wie möglich umzusetzen.

In Ihrem privaten als auch studentischen Umfeld engagieren Sie sich an den verschiedensten Stellen. Was motiviert Sie und wofür machen Sie sich stark?
Mein Engagement entsteht aus tiefem Mitgefühl und persönlicher Erfahrung. Ich weiß, wie sehr Menschen auf Unterstützung angewiesen sein können, wenn sich Lebensumstände plötzlich ändern. Die Verantwortung für meine Schwester trage ich aus Liebe, aber auch aus Überzeugung. Gleichzeitig ist es mir ein Anliegen, meine Großmutter zu entlasten, die viel getragen hat und noch immer trägt.
All diese Erfahrungen haben mich gelehrt, Rückschläge und Schwierigkeiten nicht als Hindernisse, sondern als Antrieb zu sehen. Ich habe gelernt, nicht aufzugeben – auch dann nicht, wenn es schwer wird. Stattdessen kämpfe ich, wachse an Herausforderungen und bin heute stärker, zielstrebiger und entschlossener denn je. Mein Ehrgeiz, Ärztin zu werden, speist sich nicht nur aus Fachinteresse, sondern aus einem tiefen inneren Antrieb, etwas zu bewirken und anderen Halt zu geben.
Auch in meinem studentischen Umfeld engagiere ich mich mit großem Herzen. Als Tutorin in der Anatomie helfe ich Kommiliton*innen nicht nur fachlich weiter, sondern bin auch eine Ansprechpartnerin für persönliche Fragen. Ich mache mich stark für gegenseitige Unterstützung, Diversität im Gesundheitswesen und insbesondere für junge Frauen, die in medizinischen Berufen ihren Platz suchen – trotz Widerständen.
Dabei setze ich mich besonders für Studierende mit Care-Verantwortung ein. Als Mutter einer kleinen Tochter weiß ich, wie herausfordernd es ist, ein Medizinstudium im Regelstudienzeitrahmen zu absolvieren, wenn man gleichzeitig ein Kind großzieht. Ich kämpfe für flexible Studienbedingungen und mehr Sichtbarkeit von Eltern im Studium – denn Elternschaft und akademischer Erfolg schließen sich nicht aus.
Inwiefern hilft Ihnen das Deutschlandstipendium bei Ihrem Engagement? Was bedeutet die Auswahl beim Förderprogramm für Sie?
Das Deutschlandstipendium ist für mich eine große Unterstützung – sowohl finanziell als auch ideell. Es ermöglicht mir, mich verstärkt auf mein Studium zu konzentrieren, auch wenn ich nebenbei weiterhin arbeite – allerdings in reduziertem Umfang. Diese Entlastung ist auch aufgrund meiner privaten Umstände und Anforderungen besonders wichtig.
Seit ich Mutter bin, weiß ich: Ein Baby wächst schnell aus seinen Sachen heraus, braucht Zeit, Fürsorge und Nähe – Dinge, die nicht planbar sind, aber viel bedeuten. Auch hier konnte ich die finanzielle Unterstützung für meine Tochter nutzen. Dank des Stipendiums gelingt es mir, nicht nur alltägliche Herausforderungen zu bewältigen, sondern auch wertvolle Erinnerungen für meine Familie zu schaffen.
Ich plane bewusst kleine Auszeiten: gemeinsame Kurztrips mit meiner Oma und meiner Schwester, um neue Energie zu tanken und das Leben wieder mehr zu spüren.
Ein besonderer Lichtblick ist unser geplanter Familienurlaub im Sommer – zum ersten Mal werden wir alle, meine Oma, Schwester, Tochter, mein Mann und ich, gemeinsam nach Mallorca reisen.
Dass ich für das Stipendium ausgewählt wurde, bedeutet mir daher sehr viel. Es ist ein Zeichen der Wertschätzung für einen Lebensweg, der von Verantwortung, Ausdauer, Mutterschaft, Ehrenamt und Mitmenschlichkeit geprägt ist. Es motiviert mich, weiterhin mein Bestes zu geben – im Studium, in der Familie und in der Gesellschaft. Denn ich weiß: Jeder Schritt zählt – und jeder Mensch, dem man Zuversicht schenkt.
Gibt es sonst noch etwas, das Ihnen wichtig wäre, mitzuteilen?
Besonders dankbar bin ich dafür, dass meine Mutter noch miterleben durfte, wie ich einen Studienplatz in Medizin erhalten habe – ein Moment, der mich tief geprägt hat und mir bis heute Kraft schenkt. Ihre Werte, ihre Stärke und ihr unermüdlicher Einsatz für andere leben in mir weiter und begleiten mich auf meinem Weg.
Mein Ziel ist es, eine Ärztin zu werden, die nicht nur mit Wissen und Können hilft, sondern auch mit Menschlichkeit und Einfühlungsvermögen – denn ich weiß aus eigener Erfahrung, wie entscheidend das gerade in schwierigen Lebenslagen sein kann. Diese Haltung möchte ich auch meiner Tochter mitgeben, die mich täglich daran erinnert, wie wichtig es ist, trotz aller Herausforderungen mit Liebe und Hoffnung in die Zukunft zu blicken.
An dieser Stelle möchte ich auch meinem Ehemann danken. Er ist meine stille, verlässliche Stütze – jemand, der mich in all meinen Rollen und Verantwortungen auffängt, bestärkt und entlastet. Ohne ihn könnte ich diesen Weg nicht in der Form gehen, wie ich es heute tue. Und ich danke Ihnen als Vertreterinnen und Vertreter des Marburger Bundes Niedersachsen, für Ihre Unterstützung, Ihr Vertrauen und Ihre Wertschätzung. Dieses Stipendium bedeutet mehr, als Worte ausdrücken können.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Siems!
Das Gespräch führte Greta Becker, MB Niedersachsen.