• „Wir können uns nicht wegducken, wenn solche Katastrophen passieren“

    MB-Mitglied im Hilfseinsatz für die Ukraine
    31.März 2022
    Hannover/Medyka
    Von Anna Dierking

    „Die traurigen und traumatisierten Gesichter der Frauen und Alten und die erschöpften Gesichter der Kinder waren dominierend“, so beschreibt Dr. Wjahat Waraich seine ersten Eindrücke beim Eintreffen im Flüchtlingscamp in Medyka an der polnisch-ukrainischen Grenze. Als er von der Not der Menschen aus der Ukraine hörte, zögerte der 34-jährige Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe nicht und machte sich Anfang März, keine zwei Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, auf den Weg, um vor Ort mit der Hilfsorganisation „Humanity First“ zu helfen.
    Dr. Wjahat Waraich, hier im Camp in Medyka, plant nach seiner Rückkehr bereits den nächsten Hilfseinsatz. Foto: Wjahat Waraich/Privat
    Dr. Wjahat Waraich, hier im Camp in Medyka, plant nach seiner Rückkehr bereits den nächsten Hilfseinsatz. Foto: Wjahat Waraich/Privat

    „Meine Eltern mussten Anfang der 80er Jahre aus ihrer Heimat Pakistan fliehen und erhielten Schutz in Deutschland. Für mich, als Kind einer Flüchtlingsfamilie, ist es daher selbstverständlich, jetzt zu helfen und den Kriegsflüchtlingen Schutz zu geben“, beschreibt Waraich seine Motivation.


    Der siebentägige Einsatz gestaltete sich gerade zu Beginn schwierig:Was die Hilfe im Camp angeht, so war diese anfangs unorganisiert. Erst im Laufe der Tage ist mehr Ordnung reingekommen und auch die organisatorischen Strukturen für die Erstversorgung kommen erst allmählich zum Tragen“, berichtet Waraich, der sich seit 12 Jahren auch in der internationalen Entwicklungshilfe engagiert.


    Die Menschen, die das Camp erreichen, seien durch die Strapazen deutlich gezeichnet: „Viele der ankommenden Menschen sind von der oft mehrtägigen Reise völlig erschöpft, haben unterwegs Infektionen und Verletzungen erlitten, sind gestürzt. Die meisten sind traumatisiert oder stehen unter Schock, sind voller Trauer und vergessen oder ignorieren ihre Beschwerden“, berichtet Waraich. Als Ärzt*innen mussten er und seine Kolleg*innen daher proaktiv auf die Menschen zugehen und nach ihrem Befinden fragen, ihnen Hilfe anbieten. „Diese wird gebraucht und auch angenommen“, so seine Erfahrung. Bei Kindern hatte es Waraich häufig mit Durchfall, Übelkeit, Bauchschmerzen, aber auch Erfrierungen an den Fingern oder Füßen, zu tun. Ältere Menschen hätten oftmals ihre Medikamente nicht mitnehmen können oder diese bereits aufgebraucht. Auch hierum kümmerte sich Waraich nach Möglichkeit vor Ort.

    Bei seiner Hilfe stieß er dabei immer wieder auf Herausforderungen: „Es mangelt vor allem an professionellem Personal.“ Die Hilfsbereitschaft, auch von Privatpersonen, sei insgesamt groß, allerdings werde medizinisches Equipment und medizinisches Personal benötigt, um die Geflüchteten fachkundig versorgen zu können.


    Derzeit kommen täglich mehrere tausend bis zehntausend Menschen von der ukrainischen Seite in Medyka an, die es zu versorgen gilt:Wir müssen einen Weg finden, wie wir die Geflüchteten nach Einreise bestmöglich betreuen. Meiner Einschätzung nach wäre es am besten, wenn jeder Flüchtling – noch vor der Weiterreise – ärztlich gesichtet und bei Bedarf behandelt wird“, erklärt Waraich.


    Um Helfer*innen die Hilfe zu erleichtern oder diese überhaupt zu ermöglichen, sieht Waraich das Land Niedersachsen in der Pflicht:Da es in Krisenregionen meistens in erster Linie am medizinischen Personal mangelt, sollte das Land darüber nachdenken, für humanitäre Krisen dieser Art medizinisches Fachpersonal zu unterstützen, das sich für ein paar Wochen, zum Beispiel über eine Hilfsorganisation, engagieren will.“ Derzeit seien alle Einsätze ehrenamtlich und viele, auch Waraich selber, nähmen bereits seit Jahren Urlaub, um helfen zu können. „Wenn wir ehrlich sind, ist der gesetzlich festgelegte Erholungserlaub vom Gesetzgeber eigentlich nicht für solche Zwecke gedacht. Und ich kann viele Kolleginnen und Kollegen aus der Ärzteschaft und Pflege verstehen, wenn es für sie schwierig ist, Urlaub für solche Einsätze zu nehmen, zumal man auch Familie hat. Ich mache das jetzt schon ein paar Jahre und entspannt und erholsam sind diese Einsätze nie“, weiß Waraich. Eine Art Fonds, der Einsätze dieser Art unterstützt, wenn man beispielsweise unbezahlten Sonderurlaub nehmen muss, fände er daher sehr hilfreich. Dies käme einer Dienstausfallentschädigung gleich und sollte laut Waraich gesetzlich festgeschrieben werden, denn: „Ich befürchte, dass dies nicht die letzte humanitäre Krise ist, die uns in Niedersachsen betreffen wird. Und wir können uns nicht wegducken, wenn solche Katastrophen passieren. Niedersachsen kann und sollte hierbei vorangehen!“


    Von seinem Einsatz weiß Waraich durchaus auch positive Aspekte zu berichten:Mich haben die Solidarität und das Mitgefühl der helfenden Menschen vor Ort sehr beeindruckt. Viele sind mehrere hundert, manchmal tausende Kilometer angereist, um die Geflüchteten zu unterstützen.“ So habe beispielsweise ein Fußballverein aus dem Ahrtal, der selbst von der schlimmen Jahrhundertflut im Sommer hart getroffen worden war, rund 300 Care-Pakete mit Snacks und Hygieneartikeln gepackt, die die Helfenden vor Ort an die Menschen im Camp verteilen konnten. „Auch die Tatsache, dass viele Deutsche vor Ort waren, fand ich klasse. Das waren Momente, in denen ich sage, dass wir stolz auf unser Land sein können, diese Hilfsbereitschaft und Solidarität zu zeigen.“


    Auf die Frage, was er ärztlichen Kolleg*innen, die ebenfalls über einen Hilfseinsatz nachdenken, empfehlen würde, benennt Waraich konkrete Punkte: „Man sollte den Mut fassen und sich bei einer der Hilfsorganisationen melden, die dort aushelfen. Man sollte bereit sein, schlimme Traumata zu ertragen. Wir sind als Ärzte ja einiges gewöhnt. Und man sollte auch bereit sein, wenig zu schlafen bei widrigen Arbeitsbedingungen. Auch dies sind wir leider gewöhnt. Wenn man dann noch bereit ist, in der Kälte auszuharren und sich warm anzuziehen, steht einem Einsatz in Medyka eigentlich nichts mehr in Wege. Wenn man zum ersten Mal einen solchen Einsatz begleiten möchte, kann man das ja absprechen und kommunizieren, so dass man nicht als alleinige Fachkraft vor Ort ist.“


    Und wie geht es ihm selbst nach seiner Rückkehr aus Medyka? „Ich bin tatsächlich etwas platt. Mehrere Tage von morgens bis nachts draußen bei Temperaturen um die null Grad und oft deutlich drunter im Einsatz zu sein, das ist anstrengend gewesen. Wenn ich aber daran denke, wie es den Flüchtlingen geht, habe ich nichts zu melden. In Gedanken bin ich natürlich bei den vielen tausend Menschen, die derzeit über die Grenze flüchten. Ich bin aber auch etwas erleichtert, da ich weiß, dass mittlerweile Kolleginnen und Kollegen vor Ort helfen und wir Hilfsstrukturen etablieren konnten.“


    Waraich selbst will nach aktueller Planung möglichst bereits im April zu einem erneuten Hilfseinsatz an die Grenze reisen.

     

    Eine Auswahl an Informations- und Unterstützungsmöglichkeiten: