• 75 Jahre Marburger Bund - Zeitzeugen-Interview mit Prof. Dr. Karsten Vilmar, Ehrenvorsitzender des Marburger Bundes

    Prof. Dr. Karsten Vilmar

     

    Haben Sie zu Beginn Ihres Studiums schon etwas vom Marburger Bund gehört oder wann sind Sie zum ersten Mal mit dem Verband in Kontakt gekommen?

    Karsten Vilmar: Ich bin von meinem Vater darauf aufmerksam gemacht worden. Der war niedergelassener Arzt und war auch berufspolitisch interessiert. Der las auch die Ärztlichen Mitteilungen, da stand drin, dass die vom Marburger Bund sich getroffen haben. Mein Vater wusste ja, dass ich demnächst Medizin studieren wollte. Im Studium in München war das mit dem Marburger Bund aber eigentlich kein Thema mehr. Da hat man nur diskutiert: Was wird denn nur aus dieser Ärzte-Schwemme, haben wir eine Zukunft? Die Krankenhäuser waren ja nur ganz dünn besetzt.

    Es gab nicht viele Stellen, aber sehr viele, die einfach einen Job brauchten?

    Vilmar: Ja, es gab kaum Stellen, die Stellenpläne waren miserabel. Mit einem Chef und einem Oberarzt, dachten die Krankenhausträger, ist das getan. Und die Jüngeren bekamen bestenfalls mal für drei Monate etwas. Da hieß es dann bei der Verwaltung oft: ‚Sie wollen doch was lernen hier‘. Dann ist schließlich geklagt worden wegen der Bezahlung. Denn die Krankenhausträger meinten, die Jüngeren würden ja im Krankenhaus ausgebildet. Gegen diese Ansicht hat der Marburger Bund damals schon erfolgreich geklagt mit der Begründung, dass die Ausbildung zum Arzt mit der Approbation endet und der jüngere Arzt eben auch schon ärztliche Tätigkeit verrichtet, zwar nicht alles selbstständig, sondern unter Aufsicht erstmal von älteren Ärzten, aber immerhin doch da hineinwächst und dann die Dinge allein macht. Man musste ja zum Staatsexamen auch schon einen Patienten untersuchen, eine Anamnese schreiben, eine Diagnose stellen und einen Therapievorschlag machen. Trotzdem standen die Krankenhausträger auf dem Standpunkt, die Jungen sind doch erstmal zum Lernen hier.

    Es gab damals ja auch noch keinen BAT oder so etwas. Es gab die Tarifordnung Angestellte (TOA). Zur Verlängerung des Arbeitsvertrages musste ich hier in Bremen alle drei, vier Monate zur Senatskommission für das Personalwesen. Und da habe ich gefragt: „Was ist das hier eigentlich für eine Arbeitszeitregelung? Wir schuften in der Klinik wer weiß wie und das nimmt kein Ende.“ Da sagte mir der Verwaltungsleiter für das Personalwesen ganz trocken: „Ja, das steht doch hier in der TOA drin: ‚Der Arzt hat seine gesamte Arbeitskraft dem Krankenhaus zur Verfügung zu stellen‘.“ Und Arbeitskraft sei doch dann nicht mehr da, wenn der Arzt umfällt. Das müsste ich doch wohl einsehen. Da habe ich ihm nur gesagt: „Das sehe ich überhaupt nicht ein. Das sieht ja so aus, als würde ich neben meiner ärztlichen Tätigkeit noch eine Würstchenbude aufmachen wollen.“

    Zu der Zeit haben Sie in Bremen schon am städtischen Zentralkrankenhaus St. Jürgen-Straße eine Stelle gehabt. Und dort haben Sie dann Ihre Weiterbildung begonnen?

    Vilmar: Ja, da bekam man schon was zu tun in der Chirurgie. Da wurde viel gearbeitet. Ich war ja zwischendurch in der Pflichtassistentenzeit auch in der Pathologie und habe da seziert und dergleichen. Da dachte man schon: ‚Mein Gott, die kriegen ja ihr Geld fürs Nichtstun‘. Wenn die Sektion und die Besprechung zu Ende waren, hatte man da weitgehend Feierabend. Währenddessen es in der Chirurgie immer heftig rund ging. Und dann waren da auch schon die ersten, die im Marburger Bund waren. Es hieß im Grunde an der Klinik: ‚Hier ist man im Marburger Bund‘.

    Hat Ihnen dann jemand ein Beitrittsformular mitgebracht?

    Vilmar: Ja, dann trat ich eben da ein. Das ging so über Kontakte unter den Kollegen.

    Und irgendwann sind Sie dann auf der ersten Versammlung gewesen?

    Vilmar: Ja, in der Klinik waren dann auch Versammlungen. Der Marburger Bund hatte dort eine sogenannte Obleute-Versammlung, zu der die Obleute aus den einzelnen Kliniken kamen. Da habe ich dann auch schon gemäkelt und gesagt: ‚Das kann so nicht weitergehen mit diesen Arbeitszeiten, da müssen wir etwas tun‘. Viele hatten aber Angst und sagten dann: ‚Das wünscht unser Chef aber nicht‘.

    Wie viel Stunden haben Sie damals in der Woche gearbeitet?

    Vilmar: 60 bis 80 Stunden, das war so üblich. Was die Leute heute ja gar nicht mehr wissen: Der Bundesangestellten-Tarifvertrag wurde erst 1961 eingeführt, nach langen Verhandlungen. Und wurde erstmals eine 60 Stunden-Woche vereinbart. Wir hatten vorher schon hier in Bremen – da war ich beteiligt – ermittelt, durch Aufzeichnungen in den Dienstbüchern, dass wir alle im Schnitt 80 bis 120 Stunden in der Klinik anwesend waren, also mit nächtlichen Bereitschaftsdiensten. Wir mussten einfach da sein. Darüber waren natürlich viele sauer, das musste anders werden. Damals haben wir schon gegen die Stadt Bremen geklagt. Der Prozess ruhte solange, bis der BAT galt. Erst dann war die Stadt bereit, einen Vergleich zu schließen, dass sie 50 Prozent der Stunden, die über 60 Wochenstunden hinaus gingen, vergüten wollen. Das haben sie dann auch gemacht, war wie goldener Regen. Davon habe ich mir erstmal eine Leica gekauft. [lacht]

    Damals waren Sie ja schon sehr engagiert im Marburger Bund, im Landesverband und im Krankenhaus selbst.

    Vilmar: Ja, im Krankenhaus habe ich dann versucht, die Oberärzte zusammenzurufen, um zu überlegen, wie wir weitermachen. Da durften viele gar nicht kommen, weil der Chef das untersagte.

    Sie haben sich dann aber einen Namen gemacht unter den Kollegen?

    Vilmar: Ja, sicher. Ich habe damals schon entsprechende Briefe an die Stadt geschrieben. Das hieß von den Kollegen immer: ‚Sie können das doch so schön formulieren‘. Irgendwann waren dann Wahlen und ich wurde in den Vorstand des Landesverbandes gewählt.

    Mit ihren jungen Kollegen haben Sie dann im Landesverband eine neue Zeit eingeläutet?

    Vilmar: Richtig. Ich wurde aber nicht Vorsitzender, bewusst nicht, weil wir vermeiden wollten, dass gesagt wird, der Vorsitz geht schon wieder an einen vom Klinikum St-Jürgen-Straße. So haben wir dann jemanden gewählt, der früher in der St.-Jürgen-Straße war, aber jetzt in einem anderen Krankenhaus.

    Sie waren noch nicht Vorsitzender, aber Sie hatten auch schon Kontakt zu anderen Landesverbänden und zum Bundesverband?

    Vilmar: Ja, natürlich. Denn der gewählte 1. Vorsitzende des Landesverbandes sagte ja nichts. Ich bin dann mit auf die Hauptversammlung und habe mich auch mit den anderen aus dem Verband unterhalten, was man machen sollte und machen könnte, um die Arbeitszeiten zu begrenzen und so weiter und so fort. Und dann ging schließlich unser Landesvorsitzender weg und ich wurde gewählt.

    Das war 1970.

    Vilmar: Ja, 1970. Ich wurde dann auch Delegierter bei der Hauptversammlung und habt dort direkt den Mund aufgemacht. Es ging damals um die Weiterbildungsordnung. Ich habe gesagt: ‚Da müssen wir uns als Marburger Bund drum kümmern, insbesondere um die Dauer der Weiterbildung, das Verfahren der Anerkennung und so weiter. Das ist ja alles ungeregelt. Natürlich sind wir für Weiterbildung, aber das muss ja geregelt werden.‘ Da kam Ulrich Kanzow aus Nordrhein-Westfalen zu mir sagte: „Hören Sie mal, Weiterbildung ist aber Kammersache.“ Ich habe dann erwidert: „Das soll ja auch so bleiben. Die Kammer kann durchaus die Inhalte bestimmen, die gemacht werden sollen. Wir müssen uns doch darum kümmern, wie unsere Leute das erfüllen können, in vier, fünf oder sechs Jahren.“ „Ach, so haben Sie das gemeint“, sagte dann Kanzow. Dann war auch Kanzow dafür und hat das auch so gesagt. Und auf dieser Hauptversammlung haben mich dann Wolfgang Schmidt, damals der Landesvorsitzende in Berlin, und Ulrich Kanzow für die Wahl zum Bundesvorstand vorgeschlagen. So wurde ich in der ersten Hauptversammlung, bei der ich richtiger Delegierter war, in den Vorstand des Bundesverbandes gewählt. Das hieß es dann, ‚der Senkrechtstarter‘. Ja, so senkrecht war das auch nicht. [lacht]

    Aber dann ging es doch relativ schnell.

    Vilmar: Ja, dann wurde ich fünf Jahre später Bundesvorsitzender. Vorher, da war ich gerade in den Vorstand gewählt worden, hatten wir noch eine Diskussion im Marburger Bund zu einem Papier „Strukturreform der Krankenhäuser und ihres ärztlichen Dienstes“. Der Entwurf war eine windelweiche Stellungnahme. Da habe ich gesagt: ‚Das kann so nicht bleiben und muss ganz anders werden‘. Odenbach, der damalige Bundesvorsitzende, wollte aber keinen Streit haben.

    Also keinen Streit mit den Chefärzten?

    Vilmar: Ja, Streit vermeiden. Da war eigentlich gewünscht, dass ich nicht dagegen spreche, um möglichst keinem Chef wehzutun. Denn das Papier war ja vom Bundesvorstand entwickelt worden. Aber das blieb dann nicht so und schließlich wurden daraus dann im Krankenhausausschuss der Bundesärztekammer die Westerländer Leitsätze entwickelt. Ich war damals Vertreter des Marburger Bundes in diesem Ausschuss und bekam für meine Position dort eine Mehrheit. Unter dem Titel Westerländer Leitsätze wurde das Papier dann 1972 auf dem Deutschen Ärztetag in Westerland beschlossen.

    In diesem Papier ist ja explizit das Kollegialsystem angelegt. Das Chefarztsystem alter Prägung wollten Sie überwinden. Haben Sie sich bei Ihren Überlegungen an einem Vorbild orientiert?

    Vilmar: Ja, es gab schon zwei Kliniken in Deutschland, wo es so etwas Ähnliches gab wie ein Kollegialsystem. Von manchen Chefs wurde uns ja damals vorgeworfen, wir wollten damit einfach nur die Jobs vermehren. Das war aber nicht das Ziel. Wir wollten, dass qualifizierte Leute, die schon lange als Fachärzte in den Kliniken arbeiteten, auch Mitsprache bekommen. Die waren ja wie Leibeigene und machten den Mund nicht auf. Ich sagte dann zu unseren Oberärzten: ‚Den Mund muss man schon aufmachen, anders geht das nicht‘.

    Wann ist Ihnen denn dann klar geworden, dass der Marburger Bund auch gewerkschaftlich eine stärkere Rolle spielen sollte?

    Vilmar: Wir hatten ja einen Freundschaftsvertrag mit der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, der DAG. Wir waren auch mit in der Tarifkommission der DAG und konnten da auch unseren Senf dazu geben. In den Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes haben wir Positionen vertreten, über die dann die ÖTV-Leute meckerten. Die hatten ohnehin den Anspruch, alleinvertretend für die Angestellten Tarifverträge schließen. Daraufhin haben wir mit der DAG und der Gemeinschaft von Gewerkschaften und Verbänden des öffentlichen Dienstes eine neue Tarifgemeinschaft im öffentlichen Dienst gegründet und haben gegenüber den Arbeitgebern nachgewiesen, dass wir mehr Angestellte in unserer Tarifgemeinschaft vertreten als die ÖTV. Damit waren wir zu den Tarifverhandlungen zugelassen und haben mitverhandelt. Da habe ich dann dafür gesorgt, dass es bessere Höherstufungsregelungen für die Ärzte gab, nicht so Beamtenregelungen, die auf uns nicht passten.

    Wir hatten schon kurz darüber gesprochen. Was hat es mit dem Bleistiftstreik Anfang der 70er Jahre auf sich?

    Vilmar: Ja, den haben wir gemacht, dabei ging es auch um die Arbeitszeiten. Man muss ja beim Ärztestreik wahnsinnig vorsichtig sein. Wenn da nur ein Patient zu Schaden kommt, dann ist die Stimmung aber wirklich kontra. Da haben wir also gesagt: Wir machen den Bleistiftstreik. Die Verwaltung der Krankenhäuser braucht ja immer Verlängerungsscheine, Einweisungsscheine und dergleichen von den Ärzten oder von den vertrauensärztlichen Diensten, damit die Häuser ihr Geld von den Krankenkassen kassieren können. Und da haben wir gesagt: Die schreiben wir nicht mehr, haben sie aber in Wirklichkeit doch gemacht. In einzelnen Kliniken wurden die immer von irgendeinem Vertrauensmann eingesammelt. Denn wir sagten uns, die müssen wir eines Tages doch nachweisen. Also wurden sie nur nicht abgegeben. Das führte dann schon zu Reaktionen in der Verwaltung, denn die konnten ja nicht mehr abrechnen mit den Kassen.

    Weil Sie die Scheine einfach zurückgehalten haben.

    Vilmar: Ja, ganz einfach. Dadurch haben wir auch einiges erreicht. Das war aber nicht alles. Wir haben dann gesagt: „Wir wollen mehr Geld haben!“. Die Assistenten wurden weniger, aber die Arbeit blieb die gleiche und wir mussten mehr arbeiten. Und die Aufnahmezahlen, die OP-Zahlen, all diese Zahlen, die gingen hoch oder blieben hoch. Das wollten wir nicht länger hinnehmen: ‚Die sparen da jede Menge Gehälter ein, da können sie uns auszahlen!‘ Von den Verwaltungen hieß es nur: ‚Nein, das ist ja nirgends vorgesehen im Tarifvertrag‘. Das ging ja gar nicht. Und dann habe ich die Kollegen in der Klinik ‚aufgenusselt‘ und mir natürlich anwaltliche Beratung geholt. Sachs hieß damals der Jurist im Marburger Bund, der war in Hannover, war aber auch für Bremen zuständig. Wir haben dann an die Stadt geschrieben, die war ja der Arbeitgeber, dass wir dies oder das wollten und sie belangen würden wegen Verletzung der Aufsichtspflicht. Dann kam der Senator an - ich habe den nie wieder so schnell ankommen sehen - Wessling hieß der, Krankenhauselektriker von Hause aus. Der sagte dann: „Ja, was wollen Sie denn nun? Ich will Sie ja nur helfen, helfen will ich Sie!" [lacht] Und dann haben wir dem unser Anliegen mitgeteilt. Am Ende hat er dafür gesorgt, dass tatsächlich die Gehälter anteilig ausgezahlt wurden. Es geht nur mit Druck! Nur mit Reden und so passiert gar nichts.

     

    Prof. Dr. Karsten Vilmar, geboren 1930 in Bremen, war von 1975 bis 1979 Bundesvorsitzender des Marburger Bundes und ist seitdem Ehrenvorsitzender des Marburger Bundes. Von 1970 bis 1996 war er 1. Vorsitzender des MB-Landesverbandes Bremen. 1978 wurde er auf dem Deutschen Ärztetag in Mannheim zum Präsidenten der Bundesärztekammer gewählt. Das Spitzenamt der Ärzteschaft bekleidete er bis 1999.

    Das Gespräch mit Karsten Vilmar fand im Mai 2022 während des Ärztetages in Bremen statt. Mit Karsten Vilmar sprach Hans-Jörg Freese, Pressesprecher des Marburger Bundes – Bundesverband.