• Interessante Urteile

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    ABRECHNUNG & HONORAR: Kinderärztin erstreitet Honorar für Behandlung Erwachsener

    Ein Arzt darf laut einem Urteil des Sozialgerichts (SG) München auf die Fortsetzung einer über Jahre andauernden fehlerhaften Abrechnungspraxis der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) vertrauen.

    Vertrauensschutz nach jahrelanger fehlerhafter Abrechnungspraxis

    Der Fall

    Eine Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Neuropädiatrie ist als Oberärztin an einem Klinikum tätig. Sie verfügt seit 2012 über eine Ermächtigung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung im Bereich Neuropädiatrie. Seitdem hat sie regelmäßig einzelne Patienten über 18 Jahren, die unter einer schweren Mehrfachbehinderung leiden und deren Entwicklungsstand dem eines Kleinkindes entspricht, behandelt und gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) abgerechnet. Die KV wusste, dass die Medizinerin Patienten über 18 Jahre behandelt und bezahlte die entsprechenden Leistungen.

    Mit Bescheid vom 18.11.2014 setzte die KV das Honorar der Ärztin für das zweite Quartal 2014 in Höhe von rund 22.000 € fest. Mit Richtigstellungsbescheid vom gleichen Tag stellte die KV die Abrechnung der Medizinerin für das zweite Quartal 2014 sachlich und rechnerisch richtig und setzte die Leistungen von 13 Behandlungsfällen (die Kosten der Behandlungen beliefen sich auf rund 1.000 €) ab, weil diese wegen des Umfangs der Ermächtigung nicht abgerechnet werden könnten, weil die Ärztin nur Kinder, nicht aber Erwachsene behandeln dürfe. Dagegen klagte die Medizinerin.

    Die Entscheidung

    Mit Erfolg. Das Gericht gab der Ärztin Recht und verpflichtete die KV, die Kosten der Behandlungen in Höhe von rund 1.000 € nachzuzahlen. Zwar habe die Ärztin die erwachsenen Patienten unzweifelhaft außerhalb ihrer Fachgebietsbezeichnung Kinder- und Jugendmedizin behandelt. Für solche Leistungen könne grundsätzlich kein Honorar verlangt werden. Im Streitfall habe die KV die unberechtigte Leistungserbringung der Fachärztin und deren Vergütung jedoch über einen Zeitraum von neun Quartalen (2012 - 2014) wissentlich geduldet. Die Kenntnis der unberechtigten Leistungserbringung ergebe sich aus den Abrechnungen der Klägerin sowie dem E-Mail-Schriftverkehr der Parteien. Die Fachärztin habe auf die Fortsetzung der jahrelangen Abrechnungspraxis der KV im streitgegenständlichen Quartal vertraut und auch vertrauen dürfen. Dieses Vertrauen stehe vorliegend der sachlich-rechnerischen Richtigstellung durch die KV entgegen                          SG München, Urteil vom 11.12.2017, AZ.: S 28 KA 615/15

    Fazit

    Genauso wie Vertragsärzte dürfen auch ermächtigte Klinikärzte nicht in ihr Fachgebiet fallende Leistungen grundsätzlich nicht abrechnen. Erfolgte in der Vergangenheit jedoch über einen längeren Zeitraum eine wissentliche Duldung einer unberechtigten Leistungserbringung und deren Vergütung, so steht das darauf gestützte Vertrauen der Richtigstellung aufgrund mangelnder Abrechnungsgenehmigung entgegen. Auf einen solchen Vertrauensschutz kann sich ein Arzt gegenüber der KV aber nur in Ausnahmefällen berufen. Grundvoraussetzung ist, dass die KV wissentlich unberechtigte Leistungen des Arztes über längere Zeit geduldet und vergütet hat. Eine länger andauernde Verwaltungspraxis allein genügt hierfür nicht.

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    ARBEITSSCHUTZ: Gefährdungsanzeige - Gesetzliche Pflicht zum Whistleblowing

    Eine Krankenpflegerin warnte ihren Arbeitgeber im Rahmen einer Gefährdungsanzeige vor den Folgen einer Unterbesetzung auf ihrer Station und kassierte dafür prompt eine Abmahnung. In der Folge klagte sie auf Entfernung der Abmahnung aus ihrer Personalakte – mit Erfolg. Das Arbeitsgericht (ArbG) Göttingen entschied, dass der Klinikbetreiber die Abmahnung aus der Personalakte entfernen muss. Arbeitgeber dürfen Beschäftigte, die aufgrund Personalmangels die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz gefährdet sehen und dies dem Arbeitgeber mitteilen, nicht mit einer Abmahnung sanktionieren.

    Klinik muss Abmahnung gegen Krankenpflegerin zurücknehmen

    Der Fall

    Die Klägerin, eine Krankenpflegerin, sollte in einer psychiatrischen Klinik als Vertretungskraft auf einer offenen Station mit 24 Betten eingesetzt werden. Außer ihr befand sich noch eine Auszubildende auf der Station. Die Krankenpflegerin hielt die personelle Besetzung für unzureichend, weil weder sie noch die Auszubildende ausreichend mit den Patienten vertraut sei. Sie meldete dies dem Arbeitgeber, der daraufhin eine weitere stationsfremde Auszubildende auf der Station einteilte. Zusätzlich teilte er der Klägerin mit, dass diese auch Unterstützung von der Nachbarstation bekommen könne, falls dies geboten sei.

    Die Krankenpflegerin hielt die personelle Besetzung trotz der getroffenen Maßnahmen weiterhin für nicht ausreichend und stellte deshalb eine Gefährdungsanzeige. Kurz darauf erhielt sie deshalb eine Abmahnung. Darin hieß es, dass der Umgang mit unbekannten Patienten zum betrieblichen Alltag gehöre. Eine Gefährdungslage habe zu keinem Zeitpunkt bestanden oder gedroht. Die Pflegerin zog daraufhin vor Gericht und klagte auf Entfernung der Abmahnung aus ihrer Personalakte.

    Die Entscheidung

    Die Klage hatte Erfolg. Das Gericht erklärte die Abmahnung für unzulässig. Sie widerspreche dem Sinn und Zweck des Arbeitsschutzgesetzes, das Arbeitnehmer dazu verpflichte, daran mitzuwirken, dass keine Gefährdungslagen entstehen. Es bestehe eine gesetzliche Pflicht, dem Arbeitgeber unverzüglich jede Gefahr für die eigene Gesundheit und Sicherheit oder die anderer Personen zu melden.

    Die Krankenpflegerin habe durch die Gefährdungsanzeige nicht ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt, sondern ihre Pflicht aus §16 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) erfüllt. Bereits aus dem Wortlaut der Norm ergebe sich, dass die subjektive Einschätzung des Arbeitnehmers entscheidend sei und nicht eine durch den Arbeitgeber verifizierte Gefahr. Sinn und Zweck des Gesetzes sei es, eine Gefährdungslage und damit möglicherweise eintretende Schäden präventiv zu verhindern. Somit könne keine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung eines Beschäftigten vorliegen, wenn sich die subjektive Einschätzung einer Gefahrenlage später als objektiv nicht gegeben erweise. Zusätzlich könne durch solche Abmahnungen die Gefahr bestehen, dass Arbeitnehmer aus Sorge vor einer eigenen Abmahnung keine Gefährdungsanzeige stellen – trotz Bestehens einer Gefährdungslage. Eine solche Benachteiligung von Arbeitnehmern, die sich für die Umsetzung von Schutzmaßnahmen einsetzen, sei nicht gewollt.                                                                                                       ArbG Göttingen, Urteil vom 14.12.2017, Az.:  1 Ca 267/17

    Fazit

    Voll belegt, aber personell unterbesetzt – diese Zustandsbeschreibung ist Alltag in deutschen Kliniken, was erhebliche Gefahren für die Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten am Arbeitsplatz, aber eben vor allem auch die Patienten mit sich birgt. Einen solchen Missstand aufzuzeigen, ist nach dem Willen des Gesetzgebers Pflicht eines jeden Arbeitnehmers. Denn gemäß §16 Arbeitsschutzgesetz (siehe „Das sagt das ArbSchG“) sind Arbeitnehmer verpflichtet, dem Arbeitgeber jede von ihnen unmittelbar festgestellte unmittelbare erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit unverzüglich zu melden. Der Fachbegriff hierfür lautet „Gefährdungsanzeige“.

    Hinweis

    Eine Gefährdungsanzeige ist von enormer Bedeutung im betrieblichen Alltag, weil sie den Arbeitgeber über eine Überlastungssituation und die möglicherweise daraus erwachsenden Risiken und Folgen informiert. Der „richtige“ Zeitpunkt zur Abgabe einer solchen Erklärung ist spätestens dann gegeben, wenn dem Beschäftigten die Übersicht über die zu leistende Arbeit verloren gegangen und ihm deshalb die Erfüllung seiner arbeitsvertraglichen Aufgaben nicht mehr möglich ist. Dabei kommt es nicht auf die objektive Gefährdungslage an. Es genügt vielmehr, wenn sich die Situation subjektiv für den Arbeitnehmer so darstellt. Arbeitsrechtlich dürfen dem Beschäftigten durch eine Gefährdungsanzeige keine Nachteile drohen. Das regelt das sogenannte Maßregelverbot nach § 612a BGB. Eine Abmahnung wie im Eingangsfall ist deshalb zum Scheitern verurteilt. Eine Gegendarstellung seitens des Arbeitgebers ist unter Umständen gestattet.

    Das sagt das ArbSchG

    § 16 Besondere Unterstützungspflichten

    (1) Die Beschäftigten haben dem Arbeitgeber oder dem zuständigen Vorgesetzten jede von ihnen festgestellte unmittelbare erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit sowie jeden an den Schutzsystemen festgestellten Defekt unverzüglich zu melden.

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    Arzthaftung: 35.000 € Schmerzensgeld für Hirnödem nach übersehender Malaria-Erkrankung

    Übersieht ein Arzt trotz des Vorliegens konkreter Anhaltspunkte wie Fieber und Durchfall eine folgenschwere Malaria-Erkrankung bei einer erst kurz zuvor aus dem außereuropäischen Ausland zurückgekehrten Patientin, sind laut einem Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt am Main die Voraussetzungen eines Diagnosefehlers erfüllt.

    OLG bejaht Diagnosefehler bei Übersehen einer Malaria-Erkrankung

    Der Fall

    Nach einer Reise durch das südliche Afrika traten bei einer Frau während eines Aufenthalts in einem Hotelzimmer einer deutschen Stadt Fieber und Durchfall auf. Der herbeigerufene Bereitschaftsarzt untersuchte sie und diagnostizierte einen gastrointestinalen Infekt. Er verabreichte der Frau Paracetamol und ging. Eine Malaria-Erkrankung hatte der Arzt nicht in Betracht gezogen, obwohl ihn die Frau auf ihren erst kurz zurückliegenden Aufenthalt in Afrika hingewiesen hatte. In der Folge verschlechterte sich ihr Zustand rapide. Sie erlitt ein Hirnödem und fiel ins Koma. Die Frau wurde schließlich vom Hotelpersonal bewusstlos in ihrem Zimmer vorgefunden und in ein Krankenhaus verbracht. Dort wurde eine Malaria-Erkrankung festgestellt und behandelt. Nach Meinung der Frau hätte der Bereitschaftsarzt dies bereits erkennen müssen. Aufgrund dieses offensichtlichen Diagnosefehlers sei er ihr zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes verpflichtet.

    Die Entscheidung

    Das Gericht gab der Klage statt. Der Klägerin stehe ein Schmerzensgeldanspruch zu. Auf der Grundlage der Wertung der ärztlichen Sachverständigen sei ein Diagnosefehler des Arztes zu bejahen. Er hätte die Möglichkeit einer Malaria-Erkrankung erkennen und der Patientin im Rahmen der therapeutischen Aufklärung raten müssen, zur weiteren Befunderhebung ein Krankenhaus aufzusuchen. Es liege ein vorwerfbarer Diagnosefehler vor, weil der Mediziner angesichts der Symptome und der Kenntnis vom außereuropäischen Aufenthalt zumindest auch Malaria in Betracht habe ziehen müssen. Dafür hätten konkrete Anhaltspunkte bestanden. Fieber und Durchfall seien mindestens für zwei Krankheiten kennzeichnend: Malaria und Magen-Darm-Infekt.

    Ein Mitverschulden sei der Patientin, die vor ihrem Aufenthalt in Afrika keine Malaria-Prophylaxe vorgenommen hatte, nicht anzulasten. Es mache für das Rechtsverhältnis zwischen Arzt und Patienten keinen Unterschied, ob der Patient durch eigene Schuld behandlungsbedürftig geworden ist oder nicht.                                                                                                                                          OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 21.03.2017, Az.: 8 U 228/11

    Fazit

    Für den ärztlichen Alltag hat dieses Urteil zur Konsequenz, dass bei der Kenntnis eines vorangegangenen Aufenthalts im außereuropäischen Ausland immer die Möglichkeit einer importierten Infektionserkrankung in Betracht gezogen werden muss. Das Robert Koch- Institut berichtet in seinen "Steckbriefen seltener und importierter Infektionskrankheiten" über derartige Erkrankungen unter https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/3724/steckbriefe.pdf?sequence=1&isAllowed=y. Ob ein Arzt von sich aus nach einem vorangegangenen Aufenthalt im außereuropäischen Ausland fragen muss, war vom OLG nicht zu entscheiden. Eine entsprechende Nachfrage, insbesondere bei unbekannten Patienten, ist aber sicherlich empfehlenswert.

    Hinweis

    Im Arzthaftungsrecht ist ein Diagnosefehler grundsätzlich nur mit großer Zurückhaltung als Behandlungsfehler zu werten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) sind in der Praxis häufig vorkommende Irrtümer bei der Diagnosestellung oft nicht die Folge eines Versehens, das man dem Arzt vorwerfen kann. Denn Krankheitssymptome sind nicht immer eindeutig. Vielmehr können sie auf verschiedene Ursachen hinweisen. Vor diesem Hintergrund stellt ein Fehler bei der Interpretation von Krankheitssymptomen nur dann einen schweren Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst dar, wenn es sich um einen fundamentalen Irrtum handelt, der eine nach dem Facharztstandard nicht mehr verständliche Unterlassung darstellt.

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    Arzthaftung: Schmerzensgeldklage gescheitert: Bestimmung der Größe einer Radiuskopfprothese erst intraoperativ möglich

    Vor der Implantation einer Radiuskopfprothese muss der Patient nicht darüber aufgeklärt werden, dass die Prothesengröße erst intraoperativ exakt bestimmt werden kann. Der Beweis für ein ordnungsgemäßes Aufklärungsgespräch kann von dem aufklärenden Arzt nicht mit dem handschriftlich ausgefüllten Aufklärungsbogen geführt werden. Das geht aus einer Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Dresden hervor.

    Keine Verletzung der Aufklärungspflicht vor Implantation einer Radiuskopfprothese

    Der Fall

    Der Kläger, ein Koch, hatte sich bei einem Unfall eine Ellenbogenfraktur und einen Bruch des Radiusköpfchens im Bereich des Ellenbogens zugezogen. Vor der Implantierung einer Prothese wurde ein Aufklärungsgespräch geführt. Danach unterzeichnete der Kläger einen Aufklärungsbogen. In der Folge behauptete er, die implantierte Radiuskopfprothese sei zu groß gewählt worden. Aus diesem Grund sei eine Revisionsoperation in einer anderen Klinik notwendig geworden, bei der eine kleinere Prothese habe eingesetzt werden müssen.

    Im Rahmen der Aufklärung vor der ersten OP sei er nicht auf Risiken für den Arm und dessen Beweglichkeit hingewiesen worden. An einen handschriftlichen Vermerk auf dem Aufklärungsbogen könne er sich nicht erinnern. Er leide bis heute unter irreversiblen erheblichen Bewegungseinschränkungen, Schmerzen und einer Hebeuntauglichkeit. Dadurch könne er seinen Beruf als Koch nicht mehr ausüben. Vor diesem Hintergrund sei die Klinik verpflichtet, ihm ein angemessenes Schmerzensgeld zu bezahlen.

    Die Entscheidung

    Die Klage blieb erfolglos. Laut Gericht habe der bestellte Sachverständige nicht feststellen können, dass die Größe des Implantats falsch und zu groß gewählt war. Die Auswahl der Köpfchengröße sei eine Ermessensentscheidung des Operateurs. Ein absolut sicheres Messverfahren gebe es nicht. Mittels einer Probeprothese der geschätzten Größe würden intraoperativ die Stabilität und Funktion des Ellenbogengelenkes kontrolliert, wie dies auch im Streitfall erfolgt sei. Diese Vorgehensweise sei fachgerecht und in der vorgegebenen Situation ohne Alternative. Die von dem Operateur vorgenommene Orientierung der Prothesengröße intraoperativ an den vorhandenen Trümmerfragmenten sei fachgerecht erfolgt. Es sei nicht möglich, präoperativ die korrekte Prothesengröße zu bestimmen.

    Den behandelnden Ärzten sei im Übrigen der Beweis für eine ausreichende präoperative Aufklärung über die hier in Rede stehenden Risiken gelungen. Der vom Patienten unterzeichnete Aufklärungsbogen habe dabei nicht den Vollbeweis für den Inhalt des Aufklärungsgespräches erbracht. Denn ein solches Formular sei lediglich ein Indiz für den Inhalt des Aufklärungsgespräches. Der die Aufklärung übernehmende Arzt habe jedoch in der Zeugenvernehmung auf der Grundlage des von ihm handschriftlich ausgefüllten Aufklärungsbogens glaubhaft und nachvollziehbar geschildert, dass er die Aufklärung ordnungsgemäß durchgeführt hat.                                                                                            OLG Dresden, Urteil vom 09.05.2017, Az.: 4 U 1491/16

    Fazit

    Die ordnungsgemäße Aufklärung des Patienten wird häufig unterschätzt. Dabei passieren die häufigsten Fehler in der ärztlichen Praxis nicht am Behandlungstisch, sondern bei der Kommunikation im Vorfeld eines Eingriffs. Hierbei gilt es Folgendes zu beachten: Der Aufklärungsbogen genügt nicht, um eine ordnungsgemäße ärztliche Aufklärung nachzuweisen. Kommt es zu einem gerichtlichen Verfahren, ist regelmäßig die Zeugenvernehmung des aufklärenden Arztes erforderlich. Diese muss glaubhaft und nachvollziehbar schildern, wie er die Aufklärung durchgeführt hat. Ein handschriftlich ausgefüllter Aufklärungsbogen kann dafür lediglich als Grundlage dienen.

    Gesetzliche Aufklärungspflichten nach dem BGB

    • Diagnoseaufklärung nach § 630c Abs. 2 Satz 1, 1. Alt. BGB:

    Information über die gestellte Diagnose, zu der auch eine Aufklärung über die Verdachtsdiagnose gehören kann

    • Therapieaufklärung nach § 630c Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. BGB:

    Information über das vorgesehene therapeutische Vorgehen

    • Risikoaufklärung (Eingriffsaufklärung) nach § 630e Abs. 1 Satz 2, 5. Alt. BGB: Information über die mit der vorgesehenen Behandlung verbundenen Risiken, auch das Risiko der Nichtbehandlung
    • Aufklärung über Behandlungsalternativen nach § 630e Abs. 1 Satz 3 BGB: Information über andere ernsthaft in Betracht kommende Behandlungsverfahren mit andersartigen Risiken
    • wirtschaftliche Aufklärung nach § 630c Abs. 3 BGB:

    Information über die mit der Behandlung verbundenen Kosten und die möglicherweise nicht gesicherte Kostenübernahme durch gesetzliche oder private Kostenträger

    • Verlaufsaufklärung nach § 630c Abs. 2 Satz 1, 3. Alt. BGB:

    Information über den Therapieverlauf und etwaige Zwischenfälle/Vorkommnisse

    • Sicherungsaufklärung nach § 630c Abs. 2 Satz 1, 4. Alt. BGB:

    Information über die Maßnahmen, die zur Sicherung des Therapieerfolges nach Beendigung der unmittelbaren Behandlungsmaßnahmen vom Patienten beachtet werden sollten

    • Aufklärung über Behandlungsfehler nach § 630c Abs. 2 Satz 2 BGB

    Hinweis

    Es gilt der Grundsatz: Je weniger dringlich ein Eingriff ist, desto umfassender ist darüber aufzuklären. Je dringender die Indikation und je notwendiger der Eingriff, desto geringer sind die Anforderungen an die Aufklärungspflicht.

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    RECHTE DES BETRIEBSRATS: Betriebsrat muss Chefarzt-Einstellung zustimmen

    Die originäre Aufgabe des Betriebsrats besteht darin, die Interessen der Belegschaft bestmöglich gegenüber dem Arbeitgeber zu vertreten. Aufgrund ihrer Nähe zum Arbeitgeber gelten leitende Angestellte nicht als Arbeitnehmer und werden dementsprechend auch nicht vom Betriebsrat vertreten. Da ein Chefarzt aber nicht automatisch leitender Angestellter ist, kann es vorkommen, dass ein Klinikbetreiber vor der Einstellung des auserwählten Chefarztes den Betriebsrat um Zustimmung ersuchen muss. Das geht aus einer Entscheidung des Arbeitsgerichts (ArbG) Hamburg hervor.

    Nicht jeder Chefarzt gilt als leitender Angestellter

    Der Fall

    Ein Klinikbetreiber wollte in einem seiner Kliniken die Position des Chefarztes in der Chirurgie neu besetzen. Der Betriebsrat meinte, dass bei dem neu einzustellenden Chefarzt die Voraussetzungen eines leitenden Angestellten nicht vorlägen und das Gremium deshalb bei der Einstellung ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 Abs. 1 BetrVG habe. Mit dem vom Klinikbetreiber auserkorenen Kandidaten war das Gremium in der Folge nicht einverstanden und verweigerte daher seine Zustimmung zur Einstellung. Der Klinikbetreiber zog daraufhin vor Gericht und beantragte, die vom Betriebsrat verweigerte Zustimmung zu ersetzen. Er behauptete, dass ein Veto der Arbeitnehmervertretung keine Rolle spiele, weil es sich bei dem Kandidaten qua seiner Position als Chefarzt um einen leitenden Angestellten handele, sodass die Zustimmung des Betriebsrats gar nicht erforderlich gewesen sei. Schließlich trage ein Chefarzt wesentlich zum wirtschaftlichen Gesamtergebnis der Klinik bei.

    Die Entscheidung

    Das Gericht war anderer Meinung. Es hielt die Zustimmung des Betriebsrats bei der Einstellung des Chefarztes für erforderlich, ersetzte diese aber dennoch gemäß § 99 Abs. 4 BetrVG, weil eine Benennung des Chefarztes im Streitfall dringend geboten sei. Ansonsten gelte, dass ein Chefarzt nicht immer automatisch leitender Angestellter sei. Denn dies setze voraus, dass er laut Arbeitsvertrag und seiner tatsächlichen Stellung in der Klinik der Leitungs- und Führungsebene zuzurechnen sei und außerdem auch als Unternehmens- oder Betriebsleiter Entscheidungen entweder selbst treffe oder maßgeblich vorbereite (z. B. der ärztliche Direktor eines Klinikums). Diese Anforderungen seien im Streitfall nicht erfüllt. Die pauschale Behauptung des Klinikbetreibers, dass ein Chefarzt wesentlich zum wirtschaftlichen Gesamtergebnis der Klinik beitrage, genüge nicht, um die Position eines leitenden Angestellten zu begründen.                                                                                                                                  ArbG Hamburg, Beschluss vom 21.04.2016, Az.: 5 BV 24/15

    Fazit

    Wichtige Erkenntnis für Betriebsräte in Krankenhäusern: Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gelten nur „klinikleitende“ Chefärzte als leitende Angestellte (BAG, Urteil vom 05.06.2014, Az.: 2 AZR 615/13). Für die Praxis bedeutet dies, dass nur wenige Chefärzte als leitende Angestellte qualifiziert werden, auf die die Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes grundsätzlich keine Anwendung finden, mit der Folge, dass der Betriebsrat für diese Gruppe von Führungskräften nicht zuständig ist.

    Checkliste: Leitende Angestellte nach § 5 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)

     

    Ja

    Nein

    Ist die Person zur selbstständigen Einstellung und Entlassung von im Betrieb oder in der Betriebsabteilung beschäftigten Arbeitnehmern berechtigt?

     

     

    Besitzt die Person Generalvollmacht bzw. Prokura?

    Übernimmt die Person im Betrieb regelmäßig Aufgaben (und trifft Entscheidungen im Wesentlichen frei von Weisungen), die für den Bestand und die Entwicklung des Betriebes von Bedeutung sind und setzt die Bewältigung dieser regelmäßigen Aufgaben besondere Erfahrungen und Kenntnisse voraus?

     

     

    Fazit: Können alle Fragen mit „Ja“ beantwortet werden, erfüllt die Person die Voraussetzungen eines leitenden Angestellten.

     

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    RECHTE DES BETRIEBSRATS: Freistellungswahl ist auch ohne vorherige Beratung mit dem Arbeitgeber wirksam

    In Unternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten wählt das neu gewählte Betriebsratsgremium nach der Betriebsratswahl die freizustellenden Betriebsratsmitglieder aus seiner Mitte. Nach dem Willen des Gesetzgebers hat die Wahl „nach Beratung mit dem Arbeitgeber“ zu erfolgen. Was also, wenn der Betriebsrat den Arbeitgeber nicht zu Rate zieht und die Freistellungswahl dennoch durchführt? Ist die Wahl dann anfechtbar? Nein, meint das Bundesarbeitsgericht. Unterbleibt die Beratung mit dem Arbeitgeber im Vorfeld der Freistellungswahl, so hat dieser Umstand keine negative Auswirkung auf das Wahlverfahren. Mit anderen Worten: Die Freistellungswahl ist dennoch rechtens.

    Ignoranz des Betriebsrats bleibt folgenlos

    Der Fall

    In einem Betrieb mit mehr als 7.000 Arbeitnehmern entschied der 35-köpfige Betriebsrat im Rahmen der konstituierenden Sitzung, zehn Betriebsratsmitglieder freizustellen. Unter den Gewählten befand sich ein Betriebsratsmitglied, das der „Initiative Liste“ angehörte. Kurz nach der Freistellungswahl widerrief dieses Betriebsratsmitglied seine Freistellung. Da auf der „Initiative Liste“ kein weiteres Mitglied zur Verfügung stand, führte der Betriebsrat eine weitere Freistellungswahl durch und wählte ersatzweise ein der Liste „I B“ angehöriges Betriebsratsmitglied. Vor dieser Wahl hatte keine Beratung mit dem Arbeitgeber stattgefunden. Drei Betriebsratsmitglieder meinten, dass dies einen schwerwiegenden Wahlfehler darstelle und erklärten die Anfechtung der Freistellungswahl. Ihres Erachtens liege ein Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften vor.

    Die Entscheidung

    Das BAG war anderer Meinung und erklärte die Anfechtung mangels Vorliegens eines Anfechtungsgrundes für unwirksam. Bei der Beratungspflicht nach § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG (siehe „Das sagt das BetrVG“) handele es nicht um eine wesentliche Vorschrift über das Wahlverfahren. Ein Verstoß gegen diese Norm könne deshalb weder die Nichtigkeit noch die Anfechtbarkeit der Wahl begründen. Die Verpflichtung des Betriebsrats, vor der Freistellungswahl mit dem Arbeitgeber zu beraten, betreffe nicht die Durchführung der Freistellungswahl. Die Beratung habe vielmehr im Vorfeld der Wahl stattzufinden. Sie diene dem Arbeitgeber dazu, vor der Freistellungswahl etwaige Bedenken gegen die Freistellung bestimmter Betriebsratsmitglieder zu äußern. Trotz entsprechend geäußerter Bedenken sei der Betriebsrat aber nicht daran gehindert, ein bestimmtes Betriebsratsmitglied zu wählen.                                                                                                   BAG, Beschluss vom 22.11.2017, Az.: 7 ABR 26/16

    Fazit

    Der Betriebsrat entscheidet gemäß § 38 Abs. 2 BetrVG durch Wahl über die Frage, welche Arbeitnehmervertreter freizustellen sind. Ist der Arbeitgeber mit der Freistellungswahl des Betriebsratsgremiums nicht einverstanden, so kann er gemäß § 38 Abs. 2 Satz 4 BetrVG innerhalb von zwei Wochen, nachdem er die Namen der gewählten Arbeitnehmervertreter erfahren hat, die Einigungsstelle anrufen. Diese kann die Bedenken des Arbeitgebers dann entweder zurückweisen oder bestätigen und ein anderes freizustellendes Betriebsratsmitglied bestimmen. Einer Anfechtung der Freistellungswahl vonseiten des Arbeitgebers bedarf es daher gar nicht.

    So läuft die Freistellungswahl ab

    Die Wahl erfolgt geheim im Rahmen einer ordnungsgemäß einberufenen Betriebsratssitzung und wird vom Betriebsratsvorsitzenden geleitet. Da die Wahl geheim stattfindet, muss sie mithilfe von Stimmzetteln erfolgen, die keine Rückschlüsse auf die Person des Wählers ermöglichen dürfen. Jedes Betriebsratsmitglied hat das Recht, einen Wahlvorschlag einzureichen und jeden Arbeitnehmervertreter – einschließlich seiner Person – vorzuschlagen. Vor Abgabe des Wahlvorschlages ist allerdings das Einverständnis des betroffenen Betriebsratsmitgliedes einzuholen. Sind mehrere Betriebsratsmitglieder freizustellen und wird mehr als ein eigenständiger Wahlvorschlag eingereicht, ist jeder Wahlvorschlag als Liste anzusehen und es findet eine Verhältniswahl (Listenwahl) statt. Die Feststellung des Ergebnisses erfolgt anhand des d’Hondtschen Höchstzahlverfahrens gemäß § 15 der Wahlordnung (WO). In der Folge ist der Betriebsrat verpflichtet, die Namen der freizustellenden Interessenvertreter dem Arbeitgeber mitzuteilen.

    Das sagt das BetrVG

    § 38 Freistellungen

    2) Die freizustellenden Betriebsratsmitglieder werden nach Beratung mit dem Arbeitgeber vom Betriebsrat aus seiner Mitte in geheimer Wahl und nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Wird nur ein Wahlvorschlag gemacht, so erfolgt die Wahl nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl; ist nur ein Betriebsratsmitglied freizustellen, so wird dieses mit einfacher Stimmenmehrheit gewählt. Der Betriebsrat hat die Namen der Freizustellenden dem Arbeitgeber bekannt zu geben. Hält der Arbeitgeber eine Freistellung für sachlich nicht vertretbar, so kann er innerhalb einer Frist von zwei Wochen nach der Bekanntgabe die Einigungsstelle anrufen. Der Spruch der Einigungsstelle ersetzt die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Bestätigt die Einigungsstelle die Bedenken des Arbeitgebers, so hat sie bei der Bestimmung eines anderen freizustellenden Betriebsratsmitglieds auch den Minderheitenschutz im Sinne

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    RECHTE DES BETRIEBSRATS: BAG stärkt Betriebsräten im Arbeitskampf den Rücken

    Während eines Arbeitskampfes können Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats eingeschränkt sein, sofern deren Aufrechterhaltung aufgrund etwaiger Verhinderung von Arbeitskampfmaßnahmen negative Folgen für den Arbeitgeber hätte oder wenn es um die Abwehr bereits eingetretener Folgen durch Arbeitsniederlegung gehe. Eine solche Einschränkung gilt nach einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nicht für den Fall, dass der Arbeitgeber Überstunden für alle Beschäftigten anordnet, um nach beendigter Arbeitsniederlegung streikbedingte Arbeitsrückstände aufzuholen. Hier gelte das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht als aus arbeitskampfrechtlichen Gründen suspendiert, so die Bundesrichter – auch wenn mit der Überstundenanordnung Streitdruck vorgebeugt werden solle.

    Nicht jeder Streik beschneidet Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats

    Der Fall

    Hintergrund des Rechtsstreits waren von der Gewerkschaft Verdi initiierte Warnstreiks bei der Deutschen Post. Die Gewerkschaft wandte sich damit gegen Outsourcing-Pläne des Unternehmens bei der Zustellung und den damit verbundenen Aufbau von 49 sogenannten Regionalgesellschaften. Auch im Briefzentrum in der Niederlassung Kassel blieben infolge mehrerer Warnstreiks Sendungen liegen. Einen Tag nach Beginn des Warnstreiks ordnete der dortige Niederlassungsleiter für alle Beschäftigten fünf Überstunden an, ohne den Betriebsrat darüber informiert zu haben. Das Gremium war mit dieser Vorgehensweise nicht einverstanden. Es fühlte sich in der Ausübung seines Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG („vorübergehende Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit“) verletzt und zog vor Gericht. Der Betriebsrat behauptete, dass der Arbeitgeber auch nach einem Warnstreik nicht alle Beschäftigten ohne seine Zustimmung zu Überstunden verpflichten könne. Der Arbeitgeber entgegnete, dass das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats während eines Warnstreiks eingeschränkt sei.

    Die Entscheidung

    Die Erfurter Bundesrichter entschieden den Rechtsstreit zugunsten des Betriebsrats. Ihres Erachtens habe der Arbeitgeber die Überstunden nicht ohne Zustimmung des Betriebsrats anordnen dürfen. Ein solcher Alleingang sei als Abwehrmaßnahme gegen ein Arbeitskampfmittel nur zulässig, wenn der Arbeitgeber die Überstundenanordnung auf arbeitswillige Beschäftigte beschränke. Streikwillige Beschäftigte seien hingegen nicht verpflichtet, durch Überstunden zur Abwehr einer gewerkschaftlichen Arbeitskampfmaßnahme beizutragen. Im Streitfall habe der Arbeitgeber nicht darlegen und beweisen können, dass es sich bei den Überstunden um eine Abwehrmaßnahme gegen die Folgen des Warnstreiks gehandelt habe und die Anordnung der Überstunden nur auf arbeitswillige Beschäftigte abgezielt habe.                                                                            BAG, Beschluss vom 20.03.2018, Az.: 1 ABR 70/16

    Fazit

    Nicht jeder gewerkschaftliche Streikaufruf hat zwingend eine Beschränkung der Mitbestimmung des Betriebsrats zur Folge. Es kommt vielmehr auf den Gegenstand des Mitbestimmungsrechts und dessen Auswirkungen auf das jeweilige Kampfgeschehen an. So darf der Arbeitgeber nach einem Warnstreik nicht alle Beschäftigten zu Überstunden verpflichten, um die liegengebliebene Arbeit zu erledigen, ohne zuvor die Zustimmung des Betriebsrats eingeholt zu haben. Stellt die Anordnung von Überstunden allerdings eine Streikabwehrmaßnahme dar, kann das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats eingeschränkt werden, sofern der Arbeitgeber sicherstellt, dass nur arbeitswillige und nicht auch streikwillige Arbeitnehmer Überstunden leisten.

    Hinweis

    Eine solche Einschränkung ist geboten, wenn die ernsthafte Gefahr besteht, dass der Betriebsrat eine dem Arbeitgeber selbst mögliche Arbeitskampfmaßnahme verhindert und dadurch zwangsläufig zu dessen Nachteil in das Kampfgeschehen und damit in die Arbeitskampffreiheit eingreift.

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    STREIKRECHT: BAG bestätigt Arbeitgeber-Prämien für Streikbrecher

    Schlechte Nachrichten für Gewerkschaften: Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hat in einem jüngst veröffentlichten Urteil entschieden, dass Arbeitgeber grundsätzlich berechtigt sind, zum Streik aufgerufene Beschäftigte vor oder während der Durchführung von Arbeitskampfmaßnahmen durch Zusage einer sogenannten Streikbruchprämie von der Teilnahme an Streikmaßnahmen abzuhalten.

    Arbeitgeber dürfen Streikbrecher finanziell belohnen

    Der Fall

    Die Gewerkschaft Verdi hatte in einem Einzelhandelsunternehmen zum Streik aufgerufen, um die Geschäftsleitung zur Anerkennung regionaler Einzelhandelstarifverträge zu zwingen. Das Unternehmen weigerte sich jedoch und versprach jedem Beschäftigten, der nicht am Streik teilnimmt, zusätzlich zum regulären Lohn für jeden Streiktag die Zahlung von 200 € brutto. Während des Arbeitskampfes verringerte der Arbeitgeber die Streikbruchprämie auf 100 € pro Streiktag. Ein Verkäufer, der sich am Streik beteiligt und somit keine Streikbruchprämie erhalten hatte, klagte diese unter Hinweis auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz ein. Er begründete seine Klage mit dem Argument, dass sich der Arbeitgeber mit der Streikbruchprämie eines rechtswidrigen Arbeitskampfmittels bedient habe.

    Die Entscheidung

    Das höchste deutsche Arbeitsgericht wies die Klage ab. Eine allein für arbeitswillige Beschäftigte ausgelobte Streikbruchprämie sei zulässig. Zwar sei der Kläger dadurch ungleich behandelt worden, weil er als Streikteilnehmer die Streikbruchprämie nicht erhalten hatte. Bei einem Arbeitskampf könnten sich die sozialen Gegenspieler jedoch auf ihre Kampfmittelfreiheit berufen. Der Arbeitgeber habe mit der freiwilligen Sonderleistung betrieblichen Ablaufstörungen begegnen und dem Streikdruck entgegenwirken wollen. Die Streikbruchprämie sei deshalb ein zulässiges Arbeitskampfmittel.                                                                                                     BAG, Urteil vom 14.08.2018, Az.: 1 AZR 287/17

    Fazit

    Um die Beschäftigten an einer Streikbeteiligung zu hindern, darf ihnen der Arbeitgeber vor Streikbeginn bzw. während eines ausgerufenen Streiks Streikbruchprämien zusagen. Damit will er Einfluss auf das Kampfgeschehen nehmen, was vom grundgesetzlich geschützten Arbeitskampfrecht des Arbeitgebers gedeckt ist. Das gilt auch für den Fall, dass die Prämie - wie im Eingangsfall - ziemlich hoch ausfällt und damit einen erheblichen Anreiz schafft, dem Streikaufruf nicht zu folgen.

    Hinweis

    Überraschend kommt die Entscheidung des BAG nicht, denn sie bestätigt lediglich die bereits vorherrschende Rechtsauffassung. Bereits 1993 hatte das BAG in einem Grundsatzurteil entschieden, dass das Ausloben einer Streikbruchprämie seitens des Arbeitgebers rechtens sein kann (BAG, Urteil vom 13.07.1993, Az.: 1 AZR 675/92).

    Checkliste: Voraussetzungen eines rechtmäßigen Streiks

     

    Ja

    Nein

    Erfolgte der Streikaufruf durch eine Gewerkschaft?

    Ist der Streik auf ein zulässiges Ziel gerichtet, welches durch einen Tarifvertrag geregelt werden kann?

    Ist der Streik geeignet, um das Streikziel zu erreichen?

    Richtet sich der Streik gegen einen Gegner, der dazu befugt ist, tarifliche Vereinbarungen zu treffen?

    Wurden im Vorfeld des Streiks sämtliche in Betracht kommenden Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft, sodass der Streik das letzte mögliche Mittel darstellt, um das Ziel zu erreichen??

    Ist der Streik verhältnismäßig?

    Fazit: Nur wenn alle Fragen bejaht werden können, sind die Voraussetzungen eines rechtmäßigen Streiks erfüllt.