• Im Interview: Ärztliche Personalrät*innen der MHH

    Zur Arbeitszeiterfassung im Klinikalltag
    20.Oktober 2025
    Hannover
    Im Juni veröffentlichte der Marburger Bund die Ergebnisse einer Umfrage zur Arbeitszeiterfassung an deutschen Unikliniken. Die Auswertung für Niedersachsen zeigt: An den beiden Universitätskliniken des Landes, der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), kommt es zu massiven Verstößen gegen tarifvertragliche Vereinbarungen zur Arbeitszeiterfassung. Nur zwei Prozent der befragten Ärzt*innen berichten von einem manipulationsfreien System. Überstunden werden häufig nicht erfasst, Pausen automatisch abgezogen – auch dann, wenn sie nicht genommen werden konnten.

    Ärztliche Personalrät*innen der MHH schildern, was das für den Klinikalltag, die persönliche Belastung und die Versorgung der Patient*innen bedeutet.
    Bild: Marburger Bund
    Bild: Marburger Bund

    Wie wird Ihre Arbeitszeit aktuell erfasst und wie bewerten Sie dieses System?

    In den Kliniken gibt es im ärztlichen Bereich unterschiedliche Systeme. Teilweise gilt Gleitzeit, wobei die Zeiten durch einen Zeitbeauftragten – meist eine leitende Oberärztin oder ein leitender Oberarzt – genehmigt werden müssen. In anderen Bereichen erfolgt ein Log-in über ein Terminal, ebenfalls mit Genehmigung durch Vorgesetzte.

    Zumeist wird mit dem Programm Polypoint gearbeitet: teils ausschließlich für die Dienstplanung, teils ergänzt durch eine Zeiterfassung per E-Mail oder über eine ältere Polypoint-App. Allen Varianten gemeinsam ist, dass sie am Ende immer durch die Zeitbeauftragten, auch hier meist leitende Oberärzt*innen, freigegeben werden müssen. Den tarifvertraglichen Vorgaben am nächsten kommen aktuell die Terminal-Lösung und die Nutzung der Polypoint-App – beide werden jedoch nicht in allen Bereichen eingesetzt.

    Werden Überstunden bei Ihnen vollständig erfasst und anerkannt?

    Auch hier gibt es verschiedene Vorgehensweisen: In manchen ärztlichen Bereichen ist es nicht üblich, Überstunden zu dokumentieren. In anderen werden sie über Exceltabellen oder über die Polypoint-App erfasst. Eine interne Umfrage des Personalrats Ende 2024 hat ergeben, dass dies sehr unterschiedlich gehandhabt wird: Manche Kolleg*innen bekommen grundsätzlich keine Überstunden genehmigt. In anderen Bereichen werden maximal zehn Überstunden pro Woche genehmigt, während woanders alle eingetragenen Überstunden tatsächlich anerkannt werden.

    Werden an der MHH die Arbeitszeit-Höchstgrenzen überschritten? Wenn ja, wie häufig?

    Im Rahmen von stichprobenartigen Prüfungen des Personalrats im Dienstplanungsprogramm Polypoint zeigt sich, dass regelmäßig sowohl die wöchentliche Arbeitszeit überschritten als auch die tägliche Ruhezeit nicht eingehalten wird. Aktuell werden die Dienstpläne von der Dienststelle dem Personalrat nicht zur Prüfung vorgelegt. Geschätzt liegt der dokumentierte Anteil von Verstößen im unteren zweistelligen Prozentbereich. Die Warnfunktion des Dienstplanungsprogrammes ist ausgeschaltet. Wie viele ärztliche Mitarbeitende eine opt-out-Regelung unterschrieben haben und ob diese alle unbefristet beschäftigt sind, ist aktuell nicht komplett zentral erfasst und somit nicht für den Personalrat nachvollziehbar.

    Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Gesundheit und Ihr Privatleben – und wie erleben dies Ihre Kolleg*innen?

    In Verbindung mit Weiterbildungsauflagen und befristeten Arbeitsverträgen ertragen vor allem jüngere Kolleg*innen dieses Zähne knirschend. Gerade die Belastung in Bereitschaftsdiensten führt in Verbindung mit der Anzahl der zu leistenden Bereitschaftsdienste vielfach dazu, dass sehr umfassend und gut ausgebildete Kolleg*innen die Kliniken zeitnah nach ihrer Weiterbildungszeit verlassen.

    Gibt es Situationen, in denen die mangelhafte Zeiterfassung direkte Folgen für Patient*innen oder den Klinikablauf hat?

    Durch die mangelhafte Arbeitszeit-Dokumentation sind auch klinische ärztliche Stellen nicht besetzt, zum Beispiel in der Chirurgie. Unsere Dienststelle sagt dazu: „…durch die fehlenden Überstundendokumentation müssen wir davon ausgehen, dass die ärztlichen Stellen ausreichend sind.“ Unser Ärztlicher Direktor empfiehlt, alle Überstunden zu dokumentieren.

    Zur Veranschaulichung: es gibt ca. 1300 Ärzte, davon leisten ca. 1000 Überstunden. 5 Überstunden pro Woche bedeuten ca. 20 Überstunden im Monat gleich 20000 Überstunden pro Monat. Das sind aktuell ungefähr 120 zusätzliche Arztstellen, die das System entlasten könnten. Leider werden die ärztlichen Leistungen durch die Krankenkassen nicht refinanziert.

    Können Sie Beispiele aus Ihrem Kolleg*innenkreis nennen, wie auf eine mögliche Ansprache reagiert wurde?

    Das Verhalten ist sehr unterschiedlich: Manche Kolleg*innen tragen grundsätzlich keine Überstunden ein. Andere beschränken sich auf die Vorgabe der Abteilung, zum Beispiel nur 10 Stunden pro Woche pauschal eintragen. Wieder andere erfassen alles – oder sie ziehen für sich die Konsequenz und verlassen die Uniklinik zeitnah.

    Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe dafür, dass die tariflichen Vorgaben zur Arbeitszeiterfassung nicht umgesetzt werden?

    Der Personalrat hat häufiger das Thema elektronische Zeiterfassung gegenüber der Dienststelle angesprochen. Bisher wurden die Anliegen mit „es entstehen unangemessene hohe Kosten durch eine flächendeckende Anschaffung von Log-in-Terminals“ abgetan, oder es heißt, „es gibt ja jetzt eine App“. Andere Reaktionen waren „Kolleg*innen ‚genießen‘ die Freiheit, dass ihre Arbeitszeit nicht erfasst wird“ oder „es hat doch bisher auch funktioniert“. Es wird auch auf technische und organisatorische Hürden verwiesen: Es gebe keine Schnittstelle zwischen den vorhandenen Terminals und Polypoint. Gehört haben wir auch schon „dann wollen ja auch die Wissenschaftler*innen eine Zeiterfassung“.

    Was wäre Ihnen noch wichtig mitzuteilen?

    Bisher wurde die Dienstplanung mittels eigens entwickelter Programme oder programmierten Exceltabellen durchgeführt. Dazu gab es am Monatsende pdf-Ausdrucke als Arbeitszeitnachweis. Die Daten dieser Ausdrucke wurden im Personalmanagement von den jeweils zuständigen Sachbearbeiter*innen händisch in ein Abrechnungsprogramm eingegeben. Mit Polypoint passiert dieser Vorgang nun in der jeweiligen Klinik, da in Polypoint eine Schnittstelle zum Abrechnungsprogramm im Personalmanagement implementiert ist.

    Polypoint war vor ca. 40 Jahren entwickelt worden, um Schichtdienstpläne in der Pflege zu erstellen. Nun müssen Oberärzt*innen damit nicht nur Dienste planen, sondern sich auch noch in ein dafür nicht besonders geeignetes Dienstplanungsprogramm einarbeiten; vielfältige Teilzeitmodelle lassen sich kaum abbilden. Allerdings ist uns auch kein geeigneteres Programm bekannt.

    Vielen Dank für das Gespräch! 

    Die Fragen stellte Greta Becker, Pressereferentin, Marburger Bund Niedersachsen. 

    Service

    Zur bundesweiten Kampagne Arbeitszeitenwende: Zeiterfassung jetzt!

    PM vom 25. Juni 2025: Elektronische Arbeitszeiterfassung muss tarifkonform erfolgen!