• 75 Jahre Marburger Bund - Zeitzeugen-Interview mit Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, Ehrenvorsitzender des Marburger Bundes

    Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery

     

    Niemand war länger an der Spitze des Marburger Bundes – 18 Jahre im Bundesverband bis 2007, 33 Jahre im Landesverband Hamburg bis 2016. Da liegt die Frage nahe: Wie bist du eigentlich zum Marburger Bund gekommen? Schon als Student?

    Frank Ulrich Montgomery: Ja, allerdings über einen Umweg: Als Student habe ich eine private Krankenversicherung abgeschlossen, und die war billiger, wenn man gleichzeitig Mitglied im Marburger Bund war. An der Uni selbst habe ich den MB nicht kennengelernt, da war er Anfang der 1970er Jahre noch nicht präsent. Als ich dann mein Staatsexamen fertig hatte, fing ich in einer Abteilung des Universitätskrankenhauses Hamburg-Eppendorf an und hatte innerhalb kürzester Zeit mit dem Unterabteilungsleiter, bei dem ich arbeiten musste, Stress, weil der mich in wirklich übermäßiger Weise bei der Behandlung seiner Privatpatienten heranzog, aber nicht beteiligte, um es klar zu sagen. [lacht] Mir ging es aber nicht um die Beteiligung. Mich störte einfach, dass ich aufgrund magerster, handschriftlicher Notizen komplexe Arztbriefe schreiben sollte. Das habe ich abgelehnt und dem Chef gesagt: ‚Sie müssen mehr reinschreiben in die Akten, damit ich auch wirklich körperliche Befunde beschreiben kann und nicht einfach nur ein paar Sätze und ich fantasiere mir den Rest des Arztbriefes dazu. Das geht nicht!‘. Das war nicht ganz ohne Risiko, weil ich noch in der Probezeit war. Und als dann die Frage aufkam, ob man mich zwingen könnte, sowas zu machen, fiel mir plötzlich ein: ‚Da gibt's doch diesen Marburger Bund!‘.

    … eine gute Idee …

    Montgomery: Ja, ich bekam gleich Unterstützung, als ich zum MB ging. Dort hat mir so ein junger Rechtsanwalt namens Dieter Boeck ein Kurzgutachten von einer Seite geschrieben. Damals war er natürlich auch schon Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes in Köln und hat in meinem Fall dem Hamburger Landesverband dargelegt, was man mir abnötigen kann und was nicht. Ich bin dann mit diesem Gutachten zu meinem Chef gegangen und habe gesagt: ‚Ich mach das nicht!‘, alles noch in der Probezeit. [lacht] Dann habe ich Kontakt zum Obmann des MB in der Uniklinik aufgenommen, das war „Karlchen“, Karl Hörmann, mit dem ich seitdem gut befreundet bin, und auch er hat mir dann sehr gut geholfen. Dank MB habe ich diesen Streit überlebt und bin weiter in der Abteilung geblieben, ein Leben lang sozusagen. Für die Hilfe war ich dem MB sehr dankbar. Und nachdem der Streit ausgestanden war, sagte Karlchen zu mir: ‚Jetzt haben wir was für dich getan, jetzt tust du was für uns! Wir brauchen jemanden aus dem UKE im Vorstand des Marburger Bundes Hamburg‘. So kam es, dass ich bei der nächsten Hauptversammlung in den Landesvorstand gewählt wurde und zwei Jahre später zum Landesvorsitzenden. Das war 1983, und noch ein Jahr weiter war ich stellvertretender Bundesvorsitzender und dann plötzlich war ich Bundesvorsitzender! So einfach war das! Eine Karriere in drei Sätzen. [lacht]

    Das klingt danach, als hättest Du eigentlich gar keinen Karriere-Plan gehabt. Der Marburger Bund ist praktisch zu Dir gekommen!

    Montgomery: Als Student war ich im Kern sehr unpolitisch. Ich bin viel gesegelt, war mehr an meiner Freundin interessiert und am Studium und habe mich eigentlich nicht um Berufspolitik gekümmert. Der Marburger Bund kam damals in unseren studentischen Kreisen, zumindest nach meiner Erinnerung, nicht vor.

    Aber irgendetwas muss Dich dann doch ein bisschen gepackt haben, Du bist ja schon mit 31 Jahren Landesvorsitzender in Hamburg geworden.

    Montgomery: Ich habe ja selbst erfahren, was der MB bewirken kann. Außerdem habe ich ein relativ starkes Gerechtigkeitsgefühl und ich kann mich wahnsinnig ärgern, wenn Menschen etwas Ungerechtes widerfährt. Wir hatten damals ja noch viel hierarchischere Strukturen als heute. Wir hatten irre Arbeitszeiten und der MB blieb damals in der Kammer hinter seinen Möglichkeiten zurück, weil er sich dort auch von den Vertretern der Niedergelassenen dominieren ließ und er blieb insgesamt in weiten Teilen – nicht in Hamburg! - hinter seinen gewerkschaftlichen Möglichkeiten zurück.

    Du hast also das Gefühl gehabt, dass die Tarifpolitik auf Bundesebene noch etwas stiefmütterlich behandelt wird.

    Montgomery: Die Tarifpolitik wurde noch ganz stiefmütterlich behandelt, obwohl Karsten Vilmar von Anfang an immer auf ihre Bedeutung hingewiesen hatte und immer die Verbindung zur Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, der DAG, gesucht hatte. Wir waren aber nicht anerkannt. Das ist ja das, was wir nachher erst durchgekämpft haben. Wir waren nicht anerkannt als eigenständiger Tarifpartner, wir waren Huckepack bei der DAG mit drin und für viele Mitglieder war die Tarifpolitik auch cura posterior, das interessierte die gar nicht. Die interessierten sich für die landespolitischen Dinge, solche Sachen wie Privatliquidation, Weiterbildung, Versorgungswerke. Die echten tarifpolitischen und gewerkschaftlichen Aktionen führten noch ein Schattendasein.

    Kurz bevor ich im MB aktiv wurde, gab es ja sogar mal einen heftigen Disput mit dem Landesverband Berlin, der sogar für ein paar Jahre ausgeschlossen wurde, weil er sich „Ärztegewerkschaft“ nannte. Da herrschte damals ein heftiger Dissens im MB über seine Rolle. Auf der einen Seite waren die alten Standespolitiker, die sich um die klassischen Themen der Ärztekammer kümmerten, auf der anderen Seite waren die Jüngeren, denen wichtig war, dass man sich auch um die Arbeitsbedingungen kümmert. Für die reinen Standespolitiker waren wir in erster Linie die zusätzlich in den Vorstand der Bundesärztekammer und in die Vorstände der Landesärztekammern zu wählenden Krankenhausärzte, die sogenannten ‚Kurzbehosten‘. Der Begriff geht auf Erwin Odenbach zurück, weil wir sozusagen in kurzen Hosen dastanden. Allmählich änderte sich dann etwas, die Arbeitsbedingungen kamen mehr in den Fokus. Das war eigentlich auch mein Thema, mit dem ich dann da einstieg. Natürlich musst du aber als Marburger Bund-Funktionsträger beide Seiten der Medaille bespielen. Also man darf nicht nur einseitig Standespolitik machen oder nur Tarifpolitik, das gilt auch für heute in meinen Augen. Man muss beide Aspekte im Blick haben, um für die immerhin größte Gruppe innerhalb der Ärzteschaft den Anspruch an Gestaltungsmöglichkeit zu haben, den diese Gruppe verdient.

    Es war aber eine längere Entwicklung, die am Ende zu mehr Aufmerksamkeit für das Thema Tarifpolitik geführt hat?

    Montgomery: Richtig! Am weitesten, was die Betonung der Thematik anging, war sicherlich lange der Landesverband Berlin. Und zwar lange vor allen anderen! Die Art, wie sie es gemacht haben, hat damals viel Widerstand erregt. Darüber will ich mich jetzt heute überhaupt nicht auslassen. Aber viele Leute im Verband haben das Thema zunächst noch verschlafen. Erst als uns drohte, den Status einer minimalen Verhandlungsbeteiligung, den wir bei der DAG immerhin noch hatten, zu verlieren und zu einem Anhängsel von Verdi zu werden, erst dann hat sich auch der gewerkschaftliche Widerstand deutlicher geregt. Viele der aktiven Mitglieder, aber auch der Funktionsträger haben gemerkt, dass wir mit Standespolitik alleine nicht überleben können als Verband, sondern dass wir uns auch der Tarifpolitik verstärkt zuwenden müssen, weil schlicht und einfach unsere Mitglieder das auch wollten. Diese Erkenntnis war für mich das Schlüsselerlebnis von 2005/2006. Wir haben ja mehrfach davor schon immer wieder versucht, die Leute zu Aktionen zu bekommen und aufzustacheln und es ist uns eigentlich nie gelungen. Ich habe mich immer umgeguckt und da war keiner hinter mir! Das war dann 2005/2006 anders, weil wir die Gelegenheit hatten, über das EuGH-Urteil zur Anerkennung von Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit eine ganz leicht verständliche Bresche in die Wahrnehmung zu schlagen. Weil plötzlich die Bevölkerung auch sagte: ‚Es kann nicht sein, dass ein Arzt so viel arbeitet!‘. Wir hatten halt diesen Rückenwind, der uns dann geholfen hat. Und wir hatten natürlich unsere Mitglieder, die bereit waren, zu kämpfen.

    … Erste Streiks gab‘s ja schon Anfang der 70er ...

    Montgomery: Genau, damals ging es um die Aufnahme der Ärzte in den Bundesangestellten-Tarifvertrag. Davor sollten die Ärzte nicht einmal im BAT sein. Das war die große Zeit von Vilmar und in Hamburg hieß der Kollege Kusche, ein Nephrologe. Die haben damals intensiv dafür gekämpft, dass wir überhaupt Tarifverträge bekamen. Denn in der Zeit davor gab es für die Ärzte eigentlich keine Tarife, sondern Almosen von den Arbeitgebern. Man darf nicht vergessen, in den 60er Jahren war das Verhältnis von niedergelassenen Ärzten zu Krankenhausärzten noch 60.000 zu 20.000. Diese Zahlen haben sich dann in den 70er Jahren mit der Änderung der Krankenhausfinanzierung, der Schaffung neuer Studienplätze und mit der Vergrößerung des Spektrums der Möglichkeiten der Krankenhäuser total verändert. Aber es galt eben noch, dass alle Berufsgruppen im Krankenhaus – außer den Ärzten! - über den BAT abgesichert waren. Damals gab es ja zwei Drittel kommunale Krankenhäuser oder Landeskrankenhäuser und nur ein Drittel private oder kirchliche Krankenhäuser. Mit der Aufnahme der Ärzte in den BAT hat sich die Lage dann grundlegend für uns geändert und das ist der große Verdienst von Vilmar und Leuten wie Kusche.

    Wir springen jetzt einmal ein bisschen zur Gesundheitspolitik in den 80er Jahren, als Du schon im Bundesvorstand aktiv warst. Da gab es ja die Diskussion über den Arzt im Praktikum, der dann zum 1. Juli 1988 eingeführt worden ist. Die MB-Spitze hat den AiP anfangs befürwortet, erst sehr viel später hat man sich davon distanziert. Warum hat der Verband nicht von Anfang an stärker dagegen opponiert?

    Montgomery: In der Tat war die Führung des MB für den AiP. Es gab sogar mal ein ganz böses Wort, die sogenannten „Hoppe-Geißler-Ärzte“. Geißler war damals Gesundheitsminister. Der Grund für die Zustimmung zum AiP war eine Kombination aus Arbeitsmarkt-, Tarifpolitik- und Bildungselementen. Jeder von uns - und das war auch inzwischen durch EU-Richtlinien erforderlich - wusste, dass man nach dem Studium und nach dem PJ eine gewisse Phase praktischer Erfahrung brauchte. Das war mit der neuen Approbationsordnung 1971 oder 1972 abgeschafft worden. Nach dem PJ und der Approbation war der Arzt gemäß Bundesärzteordnung zur Ausübung des Berufes ermächtigt, hatte aber null praktische Erfahrung. Die alte Medizinalassistenten-Zeit gab es nicht mehr, gleichzeitig wurde die Zahl der Medizinstudienplätze in Deutschland damals von 4.000, als ich 1972 angefangen habe zu studieren, auf 10.000 bis 12.000 Ende oder Mitte der 80er Jahre aufgeblasen.

    So standen wir plötzlich vor dem Problem, dass es ganz viele junge Ärzte gab, die zwar ihr Studium beendet hatten, für die inzwischen im niedergelassenen Bereich die Pflichtweiterbildung galt, die sich also nur niederlassen durften nach einer gewissen Zeit praktischer Erfahrung, die aber keine Arbeitsstellen im Krankenhaus fanden – eben weil wir so viel mehr junge Ärzte damals hatten! Die Krankenhausträger konnten die jungen Ärzte ausbeuten ohne Ende, haben also auch nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen. Da kam die Idee, wenn man einen Arbeitsplatz halbiert und zwei Ärzte im Praktikum daraufsetzt, kann man für alle Berufsanfänger gewährleisten, dass sie eine Zeit praktischer Erfahrung haben. Wenn man das mit einer neuen Stage verbindet, nämlich dem Arzt im Praktikum, hat der Gesetzgeber als Lieferant der Studienplätze und als Garant der Ausbildung auch die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass jeder einen AiP-Platz findet. So war die Idee.

    Ich habe damals hochgerechnet, dass bei einer Ausweitung der Studienplätze und gleichbleibendem Unwillen der Arbeitgeber, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, für Mitte der 90er Jahre 50.000 arbeitslose Ärzte zu erwarten wären. Diese Prognosen sind dann zum Glück nicht eingetreten. Es kam die Wende 1989 und die Wiedervereinigung, das hat alle Berechnungen über den Haufen geworfen. Aber im Kern waren diese Prognosen auch deswegen alle falsch, weil in den 90er Jahren die Krankenhäuser doch mehr Arbeitsplätze schufen, die Arbeitszeiten sanken dann in den 2000er Jahren und die vielen arbeitslos vermuteten Ärzte konnte man dann doch noch unterbringen.

    Der AiP war wirklich eine Kombination aus bildungspolitischen und tarifpolitischen Überlegungen bis hin zu dem Versuch, den Staat in die Pflicht zu nehmen, dass er diese Stellen besetzen musste. Dass er wieder abgeschafft worden ist, war genauso gut, wie dass er eingeführt worden ist. Zu der Zeit seines Entstehens war er meines Erachtens richtig und nötig. Genauso wichtig war es, ihn wieder abzuschaffen, als sich die Arztzahlen und die Stellen im Krankenhaus und die Vergütung veränderten.

    Du hast schon das Stichwort Wiedervereinigung genannt. Das war ja eine sehr bewegte, spannende Zeit. Du bist gerade Bundesvorsitzender geworden, Rudolf Henke 2. Vorsitzender. Es heißt, Ihr beiden habt Euch dann 1990 auf den Weg in den Osten gemacht und habt sozusagen ganz pragmatisch versucht, dort Aufbauarbeit zu leisten, den MB im Osten zu verankern.

    Montgomery: Ja, aber es war noch profaner! Wir haben gar nicht mal versucht, MB-Landesverbände in dem Sinne zu gründen, sondern wir wollten einfach mithelfen, den Übergang zu gestalten. Als klar war, dass eine Amalgamierung der Systeme nicht passieren würde und es quasi eine Übernahme unseres bekannten westdeutschen Systems in Ostdeutschland geben würde, haben wir gesagt, jetzt müssen wir ganz dringend die Kolleginnen und Kollegen in den neuen Ländern unterstützen, damit erstens Kammern und zweitens Ärzteverbände entstehen können. Wir haben früh angefangen. Ich bin am 4. oder 5. November 1989 gewählt worden. Dann war am 9. November der Mauerfall, da war ich wirklich erst knapp eine Woche Marburger Bund-Vorsitzender. Wir sind dann, Rudolf Henke und ich, schon Ende November und den ganzen Dezember viel in der DDR gewesen, weil da schon Veranstaltungen der ostdeutschen Ärzte stattfanden. Wir haben sofort gemerkt, dass es für den Marburger Bund, übrigens genauso wie für andere Verbände, ganz wichtig ist, rüber zu gehen.

    Ich habe mir dann die ersten sechs Monate 1990 mehr oder weniger frei genommen in der Klinik – ich hatte das Privileg, dass mein Chef mich sehr unterstützte in diesen Dingen – und bin dann teilweise mit Rudolf Henke, teilweise mit anderen zusammen in die DDR gefahren. Wir haben damals von einer Leverkusener Pharma-Firma Grundausstattungen für die Einrichtung eines Büros bekommen. Das war ein Computer damaliger Bauart, wirklich ein einfaches Gerät, ein Drucker, 5.000 Blatt Papier, 2.000 Briefumschläge, Bleistifte, Radiergummis, was es in der DDR alles so im freien Markt nicht gab. Diese Pakete habe ich dann auf die Ladefläche des Toyota Corolla Kombi meiner Frau geladen und bin damit in die DDR gefahren. Dort sind wird dann bei verschiedenen Gelegenheiten gewesen, wo sich Ärzte treffen wollten und sich meldeten, um sich zu Verbänden zusammenzuschließen. Ganz gleich, ob das Krankenhausärzte oder Ärzte waren, die sich niederlassen wollten – wir sind zu allen gefahren und haben Veranstaltungen gemacht und haben mit den Leuten geredet.  Und wenn nur der Funken einer Verbandsgründung dort erkennbar war, haben wir dieses Paketchen abgeliefert, haben den Kolleginnen und Kollegen erklärt, wie man das benutzt und haben sie eingewiesen. Ich weiß noch, dass ein Freund von mir aus der Klinik, der gar nichts mit dem MB zu tun hatte, der aber sehr EDV-affin war - viel, viel besser als ich -, immer mitgefahren ist und die Leute eingewiesen hat in die Nutzung dieser Computer. Die kannten das ja teilweise gar nicht. Und wenn du dann drei, vier Wochen später wieder dort vorbeikamst, weil wieder eine Veranstaltung war, dann hatte sich schon sehr viel verändert.

    Das war eine wahnsinnig tolle Zeit für Politik! Du konntest viele Vorschläge machen und wenn du drei Wochen später wieder hinkamst, dann hatten sie einen Teil davon zumindest angenommen, übernommen und es hatte sich in der Situation meist etwas zum Positiven verändert. Das war ein tolles Gefühl, das sich schon sehr unterscheidet von der heutigen Situation, in der man ja in der Politik ganz, ganz dicke Bretter bohren muss, bis überhaupt irgendeine Veränderung feststellbar ist. Das war damals ganz anders! Du hattest auch direkten Zugang. Ich bin mehrfach beim damaligen Gesundheitsminister der DDR, Herrn Kleditzsch, gewesen, da konnte man einfach reden und Probleme lösen. Es war eine politisch hochinteressante und spannende Zeit, die ich für nichts auf der Welt missen möchte, weil es so tolle Erfahrungen waren und wir so viele interessante Leute kennengelernt haben.

    Von den „Care-Paketen“, die wir da abgeliefert haben, sind ein Drittel nachher komplett verschwunden, von denen haben wir nie wieder was gesehen oder gehört. Ein Drittel landete bei Ärztekammern oder Verbänden, aus denen dann später Ärztekammern wurden, und ein Drittel ist dann auch bei späteren MB-Landesverbänden verwendet worden. Wo das im Einzelnen ankam, war uns aber egal, es ging vor allem darum, möglichst schnell eine selbstverwaltete Struktur der Ärzteschaft zu schaffen, in der der MB seine Rolle spielt, aber in der die Kammer der Anker der Selbstverwaltung war. Das war ein ganz pragmatischer Ansatz und ganz anders als das, was ein anderer Verband getan hat, nämlich mit Gewalt die Niederlassung zu predigen. Da wurden den Leuten teilweise Versicherungen und Kredite verkauft, die ein Vielfaches ihrer Einkommenserwartung darstellten. Das wollten wir alles auf jeden Fall vermeiden. Wir wollten die Leute objektiv beraten, was für Strukturerwartungen sie in einem Gesundheitssystem, wie wir es aus Westdeutschland kannten und sie es jetzt in Ostdeutschland mehr oder weniger übernehmen mussten, zu erwarten hatten und was Selbstverwaltung von Ärzten bedeutete.

    Wie habt Ihr denn da den Kontakt hergestellt? Du hast gesagt, da bist Du dann bei verschiedenen Veranstaltungen gewesen. Wie habt Ihr davon erfahren?

    Montgomery: Die haben uns angefragt. Da herrschte überhaupt kein Mangel. Es gab ja auf Bezirks- oder auf Kreisebene durchaus Ärzte, die sich regelmäßig trafen. Da meldete sich zum Beispiel eine Poliklinik und sagte: „Wir haben Gesprächsbedarf. Wann könnt Ihr kommen?“ Und wir haben dann bei solchen Treffen natürlich auch Kontakte geknüpft. Ich weiß noch, dass ich schon wegen einer Rentenfrage, wegen einer Versorgungsfrage Ende November 1989 in Schwerin war, eine Riesen-Veranstaltung. Damals kam noch fast die gesamte Ärzteschaft, die Patienten mussten zwei Stunden ohne sie auskommen. [lacht] Dort war ein Arzt aus Rostock und schon zwei Wochen später hatten wir eine Veranstaltung in Rostock. Und dann haben wir ganze Tourneen organisiert! Unser damaliger Pressesprecher und stellvertretender Bundesgeschäftsführer Uwe Preusker war darin ganz toll. Wir hatten uns also einen Tournee-Plan für Mecklenburg-Vorpommern gemacht, der aber vollkommen in die Hose ging. Wir rechneten mit Durchschnittsgeschwindigkeiten von 30 bis 40 km/h auf den Landstraßen, aber das war einfach nicht möglich. Du fuhrst damals 10 bis 15km/h auf den Landstraßen. Kein Termin war irgendwie vernünftig einzuhalten! Ich hasse ja Unpünktlichkeit. Aber wir sind dann doch noch zu den Treffen gekommen. Unsere Vorträge haben wir am Anfang mit Dias und am Ende mit meinem ersten Laptop und mit einem Beamer bewältigt - da würdest du heute sagen: ‚aus der Steinzeit‘.

    Die Krönung war eine Riesen-Veranstaltung mit 5.000 Ärzten im großen Kongresszentrum in Berlin. Ich kam wegen der Verkehrsanbindungen erst in den Saal, als das Licht schon aus war und die anderen Redner vor mir angefangen hatten zu reden. Herr Schorre, der damalige KBV-Vorsitzende, hatte das organisiert. Ich sollte über gewerkschaftliche Vertretungen, aber auch über die Kammer und so weiter reden und hatte einen Schlitten mit Dias dabei. Am Eingang erwartete mich jemand, der mir dann den Schlitten abnahm, um ihn zum Dia-Projektor zu bringen. Während er also die Treppen raufhastete zum Dia-Projektor, hörte ich, wie dieser Schlitten umkippte, rausfiel und die ganzen Dias auf dem Boden landeten. [lacht] Toll, dachte ich und setzte mich erstmal auf meinen Platz. Nach einer gewissen Zeit kam der Mann zu mir und sagte: „Mir ist Ihr Dia-Schlitten umgefallen, aber ich habe sie wieder einsortiert, so wie ich glaube, dass sie richtig sind!“ Dann kam mein Vortrag an die Reihe. Es war das reinste Chaos, alles kreuz und quer, einige Dias waren auch gebrochen [lacht] Ach, das war eine irre Zeit! Es war sehr spannend und es passierte ständig etwas. Diese quälende Verlangsamung von Politik, wie wir sie heute kennen, die wirklich nur noch über die Katastrophe funktioniert und nicht mehr über das Gelenkte und ordentlich Strukturierte - die gab's damals nicht. Rudolf Henke und ich haben damals viel gemacht, wir sind nicht viel gemeinsam gefahren, aber er hat genau das Gleiche gemacht. Wir sind oft jeder für sich gefahren, damit wir auch mehr Termine wahrnehmen konnten.

    Du hast vorhin schon eine kurze Andeutung gemacht: Es ist im Osten ja sozusagen das westliche System der Kassenärztlichen Vereinigungen...

    Montgomery: ...die Struktur!...

    ...Genau, die Struktur übernommen worden. Es gab dann offensichtlich auch Ärztinnen und Ärzte, die sich bereitfanden, tatsächlich in diese Strukturen zu gehen. Obwohl es ja noch flächendeckend Polikliniken gab. Die haben dann aber praktisch keine Rolle mehr gespielt. Also ist das westliche System ‚übergestülpt‘ worden auf Strukturen, die es vorher gab. Gleichzeitig sind dann durch das Gesundheitsstrukturgesetz ab 1993 Zulassungsbeschränkungen für Vertragsärzte eingeführt worden. Das ist ja auch für den MB immer ein Thema gewesen, der die Niederlassungsfreiheit hochgehalten und sogar durchgekämpft hat vor dem Bundesverfassungsgericht 1960. War das damals auch so oder hat man sich mehr und mehr damit arrangiert, eher der Verband der Angestellten im Krankenhaus zu sein?

    Montgomery: Nein, das war genauso unser Thema damals. Wir haben gesagt, dass der gut weitergebildete und gut im Krankenhaus arbeitende Arzt eben immer die Fähigkeit haben muss, sich auch niederzulassen und wir haben auch für Niederlassungsmöglichkeiten gekämpft. Wir waren immer gegen Niederlassungssperren und wir haben vor allem sehr dafür gekämpft, dass es nicht diese Verengung aufs Krankenhaus und die Anstellung gibt, die Du jetzt eben geschildert hast. Wir sind immer für einen breiten Fächer an Möglichkeiten eingetreten. Wir wollten erreichen, dass jeder die Chance hat, selbst zu entscheiden: ‚Nehme ich das Angebot als Chef- oder Oberarzt an oder gehe ich in die eigene Praxis und bin mein eigener Herr?‘ Das war immer unser Credo, es muss die freie Entscheidung geben, sich niederlassen zu können. Das haben übrigens damals viele Kollegen im Osten gar nicht verstanden und gesagt: ‚Wie könnt Ihr denn dafür sein, dass Ihr Euch sozusagen Eure Mitglieder selber als Mitglieder abschafft?‘. Da haben wir immer gesagt: ‚Nein, uns geht es um die Wahlfreiheit, um Öffnung von Freiheitsgraden für Menschen und nicht um striktes Festhalten an Mitgliedern.‘

    Lass uns jetzt über die Nuller Jahre sprechen. Vor dem bahnbrechenden EuGH-Urteil zum Bereitschaftsdienst gab es ja auch schon ein Arbeitszeitgesetz, gegen das aber immer wieder verstoßen worden ist. Ihr habt schon in den 90ern eine Kampagne gegen die 80-Stunden-Woche gefahren. Dieses Thema der Ausbeutung begleitet den MB seit seiner Gründung, in unterschiedlichsten Facetten. Dann aber kam es zu dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs 2003, das berühmte Jäger-Urteil, vorher hatte das Gericht schon spanischen Ärzten in gleicher Angelegenheit Recht gegeben.

    Montgomery: Exakt!

    Norbert Jäger ist als Mitglied ja vom Marburger Bund unterstützt worden.

    Montgomery: Ja, das Verfahren hat der MB sozusagen für ihn geführt. Wir haben das Verfahren politisch begleitet und ich meine sogar auch finanziert. Und Norbert Jäger war unsere ‚Gallionsfigur‘.

    Es gab in dieser Zeit auch mediale Begleitmusik, Ihr habt damals einen ‚Computerstreik‘ ausgerufen ...

    Montgomery: ... Bleistiftstreik.

    ...Bleistiftstreik, ja. Also dass man im Grunde konsequent bestimmte Dinge nicht mehr macht, die aber für die Abrechnung notwendig sind. Das hat aber nur bedingt funktioniert, oder?

    Montgomery: Ja, das ist das, was ich vorhin meinte. Wir haben mehrfach immer wieder versucht, Mitglieder zu Aktionen zu bekommen und alle sagten: ‚Ja, ja, muss sein!‘ Und wenn man sich umguckte und die Aktionen losgingen, stand man mehr oder weniger alleine da. Die Leute hatten nicht den Mut, aus welchen Gründen auch immer. Aber es gab ja eine Entwicklung. Als ich 1979 meine Approbation bekam und ins Krankenhaus ging, wusste ich, dass ich für die nächsten fünf bis sechs Jahre 100 Stunden pro Woche im Krankenhaus sein werde. Ich sage jetzt mal, das klingt etwas merkwürdig: das machte auch nichts. Denn die Arbeitsintensität im Krankenhaus war damals eine andere als heute. Mit der zunehmenden Verdichtung von Arbeit im Krankenhaus, auch mit der Zunahme von Risiko und Intensität, mit den Möglichkeiten, die wir in der Medizin haben, hat sich eine Arbeitsbelastung herausgeschält, die man nicht mehr mit diesen Stundenzahlen und diesen Arztzahlen machen kann.

    Und damals, weit vor dem Urteil des EuGH, gab es diesen Turning Point, wo das mit der Verdichtung losging, also Verweildauer-Verkürzungen, Bettenstreichungen, Zunahme an Möglichkeiten in der stationären Medizin, aber auch die Einführung von sehr betriebswirtschaftlichen Prinzipien in den Krankenhäusern, die berühmte Effizienzsteigerung. Das sind so aufeinander zulaufende Linien, die sich irgendwann schneiden und dieser Schnittpunkt war erreicht, als die spanischen Ärzte im Oktober 2000 ihr Urteil beim Europäischen Gerichtshof erstritten und wir uns im MB fragten: ‚Warum geht das nicht eigentlich auch bei uns?‘. Die Frage drängte sich ja auch deshalb auf, weil damals sehr oft Überstunden nicht bezahlt wurden oder aber Krankenhausträger anboten: ‚Wir bezahlen Euch 20 Überstunden im Monat, den Rest macht Ihr so, vergelt's Gott.‘ Das gab's ja alles! Es gab kein unanständiges Angebot, das nicht gemacht worden ist. Und das hat dann in den 2000er Jahren dazu geführt, dass die Ärzte sich irgendwann ihrer Macht bewusst wurden.

    Du hast ja schon die sehr einfachen Mittel angesprochen, angefangen vom Bleistiftstreik, dann über den Computerstreik. Das war der Versuch, dem Arbeitgeber Mittel dadurch zu entziehen, dass man ihm die dafür notwendige Dokumentation nicht lieferte. Das war sehr rührend und sehr nett und hat auch ein bisschen hin und wieder mal was geholfen. Aber es war eigentlich nicht so, dass die Arbeitgeber davor zitterten und sagten: ‚Das wird uns jetzt um unsere Zahlungsfähigkeit bringen‘. Was dann wirklich ganz toll war - und es ist erstaunlich, das ging sogar von den Universitätskliniken aus - war, dass die Ärzte nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs 2003, dem Jäger-Urteil, gerade an den Unikliniken sagten: ‚Das geht so nicht weiter!‘

    Das war also eine Basisbewegung. Du hast doch selbst einmal gesagt: ‚Wir sind auch ein bisschen getrieben worden von den eigenen Leuten.‘

    Montgomery: Ja, das stimmt. Ich habe, als das losging 2004/2005, am Anfang gedacht, mir wird es wieder so gehen, wie die Male zuvor. Ich werde mich am Ende wieder umgucken und keiner steht hinter mir. Und ich habe das deswegen am Anfang auch unterschätzt in seiner Dramatik. Richtig los ging es dann, als selbst Ordinarien und sehr konservative Menschen an Universitätskliniken sagten: ‚So geht es nicht mehr weiter‘ und sich für den Streik oder für die Aktion des MB aussprachen. Es gab in Baden-Württemberg dann eine Bewegung, an der auch die Chefs mitgemacht haben. Die Ordinarien und die Oberärzte waren ja Beamte, die durften nicht streiken, die haben uns aber geholfen. In Heidelberg zum Beispiel haben sich die beamteten Chefs während der Streiks in die Aufnahmestationen an die Arbeit gemacht, damit die anderen streiken konnten. Nicht als Streikbrecher, im Gegenteil!

    Wir mussten ja immer Notfallpläne vorlegen. Da haben wir gesagt: Das Gefährlichste, was uns passieren kann, ist, dass bei den Streiks irgendein Patient umkommt oder wegen Nichtversorgung was Böses passiert. Dann haben wir die BILDzeitung derartig im Genick, dass wir nie wieder einen Streik hinkriegen. Deswegen sind ja auch viele Ärzte in Wirklichkeit abends noch in die Klinik gekrochen nach der Streikaktion und haben sich um ihre Patienten gekümmert. Das rechne ich ja unseren Mitgliedern und auch der Organisation und vielleicht ein kleines bisschen auch mir ganz hoch an, dass es uns gelungen ist, zu verhindern, dass diese Streiks in der Öffentlichkeit als gefährlich, negativ usw. wahrgenommen wurden. Da herrschte stattdessen wahnsinnig viel Sympathie mit dem unterbezahlten, unterprivilegierten, schlecht behandelten Assistenzarzt.

    Die Oberärzte haben sich damals bei mir bitter beklagt, dass wir nicht die Oberärzte in den Vordergrund schieben würden, weil sie doch die eigentlichen Leistungsträger seien und ich habe nur gesagt: ‚Mit dem Oberarzt hat kein Mensch Mitleid, aber mit dem geschundenen Assistenzarzt, damit haben die Menschen Mitleid. Denn das ist der, den sie auch auf der Station sehen!‘

    Ich war damals gut bekannt mit einem Tagesthemen-Moderator und der fragte mich dann, wo wir denn so streiken. Und dann ist nicht er, sondern sein Tagesthemen-Team in die Uniklinik Heidelberg gefahren, als wir mal eine ganze Station mit Bundeswehr-Lazarett-Bussen, wo so acht Leute reinpassten, ‚evakuiert‘ haben. Also die mussten auf irgendeine Station in ein anderes Krankenhaus gebracht werden, weil das Krankenhaus bestreikt wurde, keine Intensivfälle oder Ähnliches. Und das Team der Tagesthemen ging wirklich durch diese Busse und hat die Leute gefragt: „Ist das nicht furchtbar, dass Sie hier aus dem gemütlichen Bett in der Uniklinik wegtransportiert werden?" Und die Leute haben gesagt: „Nein! Ich habe gesehen, was die armen Menschen hier schuften müssen. Ich bin jetzt zwar mal der Leidtragende, aber das ist völlig in Ordnung.“ Später kam besagter Moderator zu mir und sagte, sowas habe er noch nicht erlebt, dass die eigentlich Leidtragenden so solidarisch reagieren würden. Und so ist es dann zum Durchbruch gekommen, nachdem auch in den kommunalen Kliniken die Leute gesehen haben, dass es an den Unikliniken was gebracht hatte. Dann hatten sie auch da den Mut, gemeinsam vorzugehen.

    Dem vorausgegangen ist natürlich dann, dass der MB im September 2005 die Tarifgemeinschaft mit Verdi verlassen hat. Zunächst gab es ja noch Verhandlungen, an denen der MB auch beteiligt war. Dann wurde darüber berichtet und das Ergebnis war aber überhaupt nicht akzeptabel. So ist ja die Wahrnehmung gewesen, auch in der Mitgliedschaft: Die Ärztinnen und Ärzte sind in diesem neuen Tarifsystem oder diesem neuen Tarifvertrag überhaupt nicht richtig abgebildet. Das ist dann weiter kulminiert in der berühmten September-Hauptversammlung 2005, als Ihr Euch aus der Verhandlungsgemeinschaft mit Verdi verabschiedet habt.

    Montgomery: Exakt. Also, das ist auch genau mein damaliger Fehler gewesen, den ich aber hinterher wieder wettgemacht habe. Ich habe nicht daran geglaubt, dass es uns gelingt, aus dieser Tarifgemeinschaft rauszukommen, dass die Leute das durchhalten. Ich habe damals sehr versucht, bei den Verhandlungen zum TVöD etwas für uns zu erreichen. Mit Frank Bsirske von Verdi kam ich ja auf persönlicher Ebene gut klar. Ich habe ihm immer gesagt, der TVöD muss auch für den MB passen. Mein Gegenspieler zu dieser Zeit im Marburger Bund war Rolf Lübke, der immer vom ‚TV öde‘ redete. Zu der Zeit habe ich nicht wirklich geglaubt, dass wir es eigenständig schaffen und habe gesagt: ‚Dann ist es besser, den TVöD auch für uns schmackhaft zu machen, als irgendeiner Schar nachzujagen, die es nicht gibt‘. Und das ist ja dann Gott sei Dank anders gekommen.

    Aber dafür brauchte es ja eine Initialzündung.

    Montgomery: Ja, die Initialzündung ging wie gesagt von den Universitätskliniken aus. Und nachdem es da mit den eigenen Verhandlungen funktioniert hatte, wurden die anderen auch mutiger und dann wurde es nachher irgendwann mal ein Selbstläufer, bis dann die letzten Abschlüsse erreicht waren. Am Ende hatten wir, grob geschätzt, etwa 20 Prozent mehr, über alles gerechnet, plus Verkürzung von Arbeitszeiten etc. erreicht. Dass das alles dann nicht immer zu 100 Prozent so eingehalten wurde, ist eine andere Sache. Viele Mitglieder hatten leider auch die falsche Erwartung, dass Verhandlungsergebnisse bei Arbeitszeiten und so weiter automatisch für alle gelten. Nein, das muss man auch selber und vor Ort umsetzen!

    Ja, das ist ja heute nicht viel anders. Der MB setzt etwas am Verhandlungstisch durch, ob das jetzt Arbeitszeiterfassung oder andere Dinge sind, und die Umsetzung erfolgt dann vor Ort. Da müssen auch die Betriebsräte agieren. Alles nicht so einfach.

    Montgomery: Naja, und dann gibt es wieder leitende Ärzte, die haben ihren Frieden mit dem bisherigen System gemacht. Den Jüngeren wird dann gesagt: ‚Ihr verzichtet auf eine Spitz-Abrechnung von Überstunden etc. und bekommt dafür ein sattes Zusatzgehalt.‘ Aber es wird nicht mehr dokumentiert, die geleisteten Überstunden sind sozusagen nicht mehr da. Und da kann man sich schon fragen, ob die Betroffenen nicht mehr ausgezahlt bekommen würden, wenn sie Spitz auf Knopf rechnen und aufschreiben würden. Und wir wissen ja, nehmen wir den jungen Assistenzarzt in der Chirurgie, es ist nicht so, dass der oder die um fünf nach Hause gehen kann.

    Wenn man auf Deine Zeit im Marburger Bund zurückblickt, ist das schon eine sehr lange Strecke, die du an vorderster Stelle mitgegangen bist. Im November 2007 hast Du Dich als 1. Vorsitzender zurückgezogen. Es war auch irgendwie schon klar, dass du mal Präsident der Bundesärztekammer werden wolltest …

    Montgomery: Ja, früher war es ja interessanterweise so: Der Deutsche Ärztetag hat immer darauf bestanden, dass eine Funktionsträgerschaft im MB nicht kompatibel mit der Position des Präsidenten der Bundesärztekammer ist. Deswegen sind Vilmar und Hoppe ja beim Marburger Bund zurückgetreten. Bei Mitgliedschaft in anderen Verbänden minderer Bedeutung scheint das nicht so wichtig zu sein, aber egal. Ich bin auch nicht zurückgetreten wegen der Perspektive bei der Kammer - das war ja 2007 noch gar nicht sicher -, sondern ich bin damals einfach nicht mehr angetreten, weil ich fand, 18 Jahre Marburger Bund waren genug. Ich glaube auch, dass dem MB damals eine Verjüngung gutgetan hätte. Weil die Probleme und die Themen einfach anders waren! Man kann nicht als auf Lebenszeit angestellter Oberarzt einer Uniklinik mit Mitte 50 die Probleme junger Assistenzärzte am Anfang ihrer Weiterbildung authentisch vertreten. Und wenn es dann andere gibt, die das besser können, dann sollte man von sich aus den Weg frei machen. Deswegen habe ich mich aktiv entschieden und gesagt „jetzt ist gut!“ und habe den Weg frei gemacht. In meiner Zeit hat der MB in der Mehrzahl aller Kammerbereiche die Kammerpräsidentschaft gewonnen. Wir waren an der Spitze in der Bundesärztekammer. Obwohl wir im Ärztetag nie eine satte, eigene Mehrheit hatten, waren wir gut vertreten

    Eine Frage muss ich dann aber doch noch stellen: Um ein Haar wäre ja aus dieser 18-jährigen Amtszeit beim MB nur eine 10-jährige geworden... Das ist jetzt ziemlich gemein, Monti, aber ich muss das nochmal ansprechen, weil ich's ja selbst in jungen Jahren bei der BÄK miterlebt habe. Auf dem Ärztetag 1999 in Cottbus hast Du gegen Jörg-Dietrich Hoppe kandidiert, als es um die Wahl des Präsidenten der Bundesärztekammer ging.

    Montgomery: Ach ja, aber das hat beim Marburger Bund nichts beschädigt.

    Das glaube ich auch nicht. Aber ich habe mich gefragt, warum Du das gemacht hast, weil es mit Jörg-Dietrich Hoppe ja auch jemanden aus dem MB gab, der zehn Jahre an der Spitze des Verbandes gestanden hatte und zum Zeitpunkt der Wahl 1999 Vizepräsident der Bundesärztekammer war. Das hast Du aber nicht mitmachen wollen, dass da quasi eine ‚normale Übergabe‘ stattfindet von Vilmar auf Hoppe. Oder was war Deine Motivation? Was hat Dich zur Kandidatur bewogen?

    Montgomery: Ich habe Jörg wirklich geschätzt, war mit ihm ja befreundet, auch über die Geschichte hinaus. Es hat danach ein bisschen ‚gezackelt‘ eine Zeit lang, aber im Großen und Ganzen haben wir uns weiter gut verstanden. Ich bin ja nachher auch sein Vize bei der Bundesärztekammer gewesen. Ich habe damals 1999 sehr für einen Generationswechsel plädiert. Ich wollte einfach die nächste Generation ran bringen! Aber ich habe mich auch selber komplett überschätzt. Und das war übrigens für den Marburger Bund wie für mich ausgesprochen gut. Denn mir hat es gutgetan, mal so ordentlich auf die Mütze zu kriegen und für den Marburger Bund war es gut, weil wir mit einem erfahrenen Vorsitzenden die Zeit hatten, diese Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern 2005/2006 durchzustehen. Denn das muss uns doch auch klar sein: Wäre ich 1999 Bundesärztekammer-Präsident geworden, hätte ich ja auch noch das Amt des Präsidenten in Hamburg innegehabt, das ich dann allerdings kurzzeitig für vier Jahre verloren habe. Bei einer erfolgreichen Wahl 1999 hätte ich also nicht die Zeit und Intensität aufbringen können, um gemeinsam mit allen anderen Streikaktionen und gewerkschaftlichen Aktionen durchzuziehen. Insofern: Nachträglich betrachtet war alles richtig. Es war eine groteske Überschätzung meiner eigenen Person, die mich zu dieser Kandidatur 1999 in Cottbus getrieben hat. Übrigens gab es auch Leute im Marburger Bund, die mich in meiner Kandidatur bestärkt haben und die auch völlig falsch lagen.

    Am Ende hat sich irgendwie alles gefügt. Für den Verband war es natürlich sehr wichtig, dass Du Dich gerade in dieser unglaublich wichtigen Kampfzeit voll in die Auseinandersetzung hineinbegeben hast – mit höchster öffentlicher Wirkung. Seitdem ist der Marburger Bund als Gewerkschaft anerkannt und wird auch medial entsprechend wahrgenommen. Das trägt ja insgesamt auch zur Imagebildung des Verbandes bei. Manchmal ist es allerdings auch ein bisschen schwierig, die Dinge zusammenzubringen, die gewerkschaftlichen und die gesundheitspolitischen Forderungen. Das ist dann von außen betrachtet nicht immer ganz widerspruchsfrei. Wir weisen ja zum Beispiel darauf hin, dass die Krankenhäuser sehr unterfinanziert sind, gleichzeitig erwarten die Mitglieder deutliche Verbesserungen, auch bei den Gehältern. Das gehört dann zum Forderungskatalog.

    Montgomery: Dass Krankenhäuser unterfinanziert sind, heißt ja nicht, dass wir deswegen als Gewerkschaft Zurückhaltung üben müssen. Klar, man muss schon sagen, das Finanzierungssystem hat Probleme. Aber deswegen müssen die Leute, die im Krankenhaus arbeiten - nicht nur die Ärzte, ich würde das genauso für andere Berufsgruppen in Anspruch nehmen -, natürlich entsprechend ihrer Arbeitsleistung gerecht entlohnt werden. Und das müssen wir hinkriegen! Das ist die Aufgabe, die der MB hat. Der muss er sich stellen, jeden Tag aufs Neue. Und deswegen sehe ich gar nicht den Widerspruch. Aber was mir noch wichtig ist: Wir gondeln in der Relevanz der Themen Tarifpolitik und Standespolitik in so einer Wellenbewegung immer zwischen den Extremen hin und her. Eine Zeitlang war die Tarifpolitik, Anfang der 2000er Jahre und bei mir damals, extrem wichtig. Da war der Marburger Bund fast nur noch Gewerkschaft. Im Moment ist für uns die Weiterbildung mit Leuten wie Hans Gehle und anderen sehr wichtig, und Susanne Johna hat ein Augenmerk auf der Standespolitik, das macht sie richtig gut. Unser Dilemma ist immer, die richtige Balance zwischen diesen beiden zentralen Themen hinzukriegen. Du wirst nie den goldenen Schnitt zwischen beiden Themen dauerhaft und stabil erreichen, es wird bei uns immer hin und her gehen. Wenn man auf der tarifpolitischen Ebene mal ein bisschen Ruhe hat, weil die Situation gut ist, dann kann man wieder mehr Standespolitik machen. Und wenn dann irgendwann der finanzielle Segen schief hängt, dann muss man wieder mehr Tarifpolitik machen. Das ist die Kunst des Marburger Bundes, diese beiden, eigentlich intellektuell nur schwer zu vereinbarenden Themen immer ‚auf'n Pott zu kriegen‘.

     

    Das Gespräch mit Frank Ulrich Montgomery führte im Juli 2022 Hans-Jörg Freese.