• Rechtzeitig palliativ denken (Teil 11)

    Essenzielle Fakten, Neuigkeiten, kleine Interviews, Humorvolles. Standards zur Palliativversorgung.

    „Wir haben in Deutschland so schlechte Pflegeheime, wir brauchen Sterbehilfe!“

    IMPULSE FÜR DIE ÄRZTLICHE VERSORGUNG

    Von Dr. Thomas Sitte

    Ilse Thon – auch mit knapp 102 Lebensjahren kann man noch im Pflegeheim richtig (!) aktiv sein.Der Titel ist ein Zitat von Dignitas-Rechtsanwalt Dieter Graefe, Justiziar von Dignitas und Oberstaatsanwalt a. D., getätigt bei einer Podiumsdiskussion am 13. Oktober 2014 in Hamburg-Altona, bei der ich selbst – tatsächlich sprachlos – im Publikum saß.

    Mit dem elften Teil der gemeinsamen Serie der Marburger-Bund-Zeitung und der Deutschen PalliativStiftung sollen einige Impulse für den ärztlichen Alltag der Versorgung gegeben werden. Heimversorgung betrifft nicht nur niedergelassene Kollegen. Ärzte in Kliniken sind ebenso – insbesondere von Versorgungsdefiziten – betroffen, wenn Heimbewohner immer wieder besonders zur Unzeit mit dem Rettungsdienst ins Krankenhaus kommen, obwohl sie es nicht (mehr) wollen.

    Wer von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, in den letzten 20 oder 30 Jahren regelmäßig in Pflegeeinrichtungen Menschen bis zum Tod begleitet hat, weiß, dass die Situation in den letzten zehn Jahren kaum besser geworden ist. Eher wurde und wird es immer schwieriger, medizinisch ausreichend nach dem Sozialgesetzbuch zu versorgen und angemessen nach Leitlinien, wie es gerade in der Sterbebegleitung notwendig ist.

    Das Pflegeheim sollte das neue Zuhause für die Menschen werden. Ist es dies aber in der Realität? Rund zwei Drittel der Bewohner versterben schon im ersten Jahr nach dem Einzug ins Heim und nur rund 60 Prozent versterben dort auch, die anderen werden (zum Sterben?) ins Krankenhaus eingewiesen. Muss das so sein?

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    Klare Ansprechpartner

    Es kann aufwändig für Ärzte sein, schwerstkranke Patienten dort zu versorgen, wenn man in vielen Heimen jeweils wenige Patienten hat. Es braucht dann viele Gespräche, viele Aufklärungen und immer wieder den Versuch, gemeinsame Standards für wenige Patienten zu etablieren. Effizienter wird es, wenn man dort, wo die Versorgung bereits gelingt, die Kontakte intensiviert.

    Immer mehr Einrichtungen haben Palliative Care Pflegefachkräfte ausgebildet, mit denen man hervorragend zusammenarbeiten kann. Wichtig ist es, mit diesen beizeiten einen vertrauensvollen Kontakt aufzubauen. Es ist etwas zeitaufwändig, aber es lohnt sich, auch Mitarbeiter zu schulen, fortzubilden. Vorschläge finden Sie zum Beispiel bei PiPiP (Pilotprojekt PalliativVersorgung in Pflegeeinrichtungen).

    Mit PiPiP 2020 konnte die PalliativStiftung dank einer Förderung des Hessischen Sozialministeriums in den Jahren 2018 und 2019 zwanzig Pflegeeinrichtungen mit über 1.500 Bewohnern in Osthessen schulen. Hierbei wurde in Hunderten von Gesprächen zudem ermittelt, was fehlt, damit jeder im Pflegeheim zufriedener arbeiten kann und Bewohner zugleich angemessener versorgt werden können.

    Auf die Palliativ-Ampel, die in diesem Projekt entstand, sind wir schon in der Dezemberausgabe der MBZ eingegangen.

    Wer mag, findet zu PiPiP einen ausführlichen Bericht und ein kurzes Handbuch, das die PalliativStiftung auch als Broschüre versendet (https://palliativstiftung.com/de/projekte/pipip). Das Konzept kann als Blaupause genutzt werden: Kleine Wissensimpulse von 20 Minuten während der mittäglichen Übergabe sind damit strukturiert möglich.

    Nach Abschluss von PiPiP kam es durch die Corona-Pandemie zu einer traumatischen Erfahrung für viele Mitarbeiter. Die Erkenntnisse aus dem Projekt waren dabei ausgesprochen hilfreich.

    Wichtige Umfrage zu Notfallapotheke!

    Was in allen Einrichtungen von allen Mitarbeitern bemängelt wurde, war das Fehlen einer (legalen) Notfallapotheke im Heim. Eigentlich darf weder ein Pflaster aus dem Verbandkasten einem Bewohner aufgeklebt noch ein Fieberzäpfchen aus dem Bestand einem anderen Bewohner gegeben werden. Hier möchte eine Arbeitsgruppe der Bundesärztekammer Alternativen erarbeiten.

    In einer Kooperation von Hessenmed, der Deutschen PalliativStiftung, des Hospiz- und PalliativVerbandes Hessen und weiteren Unterstützern sollen von Heimversorgenden und Mitarbeitern dazu valide Daten aus der täglichen Praxis zum Bedarf erhoben werden. Nur mit guten Daten werden wir erreichen können, die Versorgung in stationären Pflegeeinrichtungen im Sinne aller Beteiligten zu verbessern.

    Wir bitten alle MB-Mitglieder, sich auch in großer Zahl zu beteiligen: doc-sitte.de/umfrage-zu-einem-notfallvorrat-in-pflegeheimen/

    BtM-Vorrat schon jetzt möglich

    Es ist kaum bekannt: Seit 2012 können in stationären Pflegeheimeinrichtungen unter gewissen Maßnahmen BtM, also zum Beispiel Opioidpflaster und anderes mehr, die ein Bewohner (in diesem Moment) nicht benötigt, über einen Hausbestand einem anderen Bewohner verabreicht werden. Die sehr komplizierten Regeln dazu finden Sie zum Beispiel auf der Website des RP Wiesbaden: rp-darmstadt.hessen.de/sites/rp-darmstadt.hessen.de/files/2022-03/HV_BtMVVl_13_Nov.pdf

    Notfallbedarf rechtzeitig rezeptieren

    Bei vielen Bewohnern zeichnen sich Krisen ab. Leider wird dann oft erst spät reagiert. Sinnvoll ist es immer, rechtzeitig eine Bedarfsmedikation schriftlich anzuordnen und auch ein Rezept dazu auszustellen. Achten Sie bitte dabei bitte auf den Dosierungsspielraum, den Sie leitliniengerecht und nach der Galenik des Medikamentes haben. Dieser weicht oft deutlich von der möglichen Dosierung im Beipackzettel ab …

    Klare Anweisungen, schriftlich!

    Geht es bei einem Bewohner auf das Ende zu und wird dies auch von allen Beteiligten so toleriert, so sollten klare, schriftliche Anweisungen für die Mitarbeiter gegeben werden. Zum Beispiel:

    • „Der Bewohner benötigt keine Gewichtsdokumentation, keine Ein- und Ausfuhrkontrolle mehr, er darf so wenig essen und trinken, wie er mag. Alle oralen Medikamente werden pausiert, wenn er sie schlecht schlucken kann.
    • Bei den Vitalzeichen sind Blutdruck, Sauerstoffsättigung und Temperatur nicht mehr relevant, aber Unruhe, Sedierungstiefe, Schmerzen, Atemfrequenz und Puls sollten dokumentiert werden.
    • Keine Krankenhauseinweisung, keine Wiederbelebung, kein Rettungsdienst.“

    Erreichbarkeit per Mail und Mobil

    Selbstverständlich sollte auch eine Erreichbarkeit der Behandler außerhalb der üblichen Sprechzeiten möglich sein. Es hat sich vielfach gezeigt, dass alleine die Möglichkeit dazu führt, dass durch das Sicherheitsgefühl die Situationen beherrschbarer werden. Geht dies nicht, sollte über eine SAPV-Verordnung nachgedacht werden. Ich selbst werde tagsüber immer wieder angerufen – nachts aber nur alle paar Monate. Und dann ist eine Klärung in aller Regel schnell am Telefon möglich.

    Telefonische Anweisungen sollten per E-Mail oder SMS oder idealerweise einen Eintrag in die Pflegedokumentation durch den Arzt schriftlich bestätigt werden.

    Kreativ sein

    Und zu guter Letzt: Oftmals hilft Kreativität. Ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Die Mitarbeiter in Pflegeeinrichtungen sind dabei selbst auch gute Rat- und Ideengeber und sehr dankbar für Ihre Unterstützung im Sinne einer besseren Patientenversorgung.

    Haben Sie gute, ungewöhnliche Vorschläge, wenden Sie sich damit gerne an den Verfasser.