• Wahlpflichtfach „Häusliche Gewalt“

    Missbrauch in partnerschaftlichen Beziehungen und Familien zählt zu den heimtückischsten Formen von Gewalt – und Ärztinnen und Ärzte gehören zu den ersten, die Betroffenen helfen könnten. Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer von der Universität Münster und ihr Team haben dazu nun einen zweitägigen Kurs als Wahlpflichtfach entwickelt, um die Sensibilität bereits bei Studierenden zu erhöhen. MBZ-Redakteur Dr. Lutz Retzlaff traf sich zu einem Zoom-Meeting mit Pfleiderer, Mitarbeiterin M.Sc. Psych. Lisa Richter und Studentin Dorothee Klump.
    Ärztinnen und Ärzte sind erste Ansprechpartner
    M.Sc. Psych. Lisa Richter. / Foto: privat

    Der Pilotkurs eines Wahlpflichtfaches zur häuslichen Gewalt fand in Pandemie-Zeiten statt. Wie wurde dies organisiert?

    M.Sc. Psych. Lisa Richter, Mitarbeiterin: Der Kurs ist für ein Wochenende konzipiert. In Kleingruppen zu je drei Personen wurden zunächst Präsentationen erstellt. Es ging dabei in erster Linie nicht um die reine Medizin. Wir haben viel über die Umstände der häuslichen Gewalt gelernt, über den rechtlichen Rahmen und wie häusliche Gewalt definiert ist. Aber natürlich ging es auch um Signale, die Betroffene senden und die wir als solche erkennen sollten. In einer Präsenzveranstaltung hätte man mehr Übungen machen können, aber es ging auch so. Wir haben dies jetzt hauptsächlich als Fallszenarien umgesetzt. Obwohl wir uns nur online treffen konnten war dies ein sehr gute Veranstaltung.

     

    Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer / Foto: privat

    In der Realität wird man bei diesem Thema auf traumatisierte Frauen treffen. Das ist nicht ganz einfach ...

    Prof. Bettina Pfleiderer: Genau, man sollte bereits die Studierenden sensibilisieren und ihnen die Angst nehmen, potenzielle Opfer da­rauf anzusprechen. Viele haben zunächst das Gefühl, man sollte das Thema häusliche Gewalt gar nicht erwähnen. Uns war wichtig, Berührungsängste abzubauen, beispielsweis aufzuzeigen, wie man ein entsprechendes Gespräch startet. Es ist immer besser zu fragen als zu schweigen.

    Dorothee Klump / Foto: privat

    Dorothee Klump, Studentin: Die Spurensicherung wird in Münster bereits als Fach umfassend und hochqualitativ angeboten. Wir lernen, wie man beispielsweise körperliche und psychische Spuren von Gewalt sicher erkennt. Als Reaktion da­rauf sind viele Studierende geschockt, weil es das erste Mal ist, dass man von Menschen gemachte Erkrankungen behandeln muss. Und: „Was folgt da­raus, wenn ich so etwas erkenne?“ „Was sind die rechtlichen Schritte?“, aber auch „Wie gehe ich damit um?“, „Was darf ich sagen und was nicht?“ Die Antworten auf solche Fragen fehlten uns bislang. Der Bezug, wie ich später im Beruf damit umgehe, fehlt weitgehend. Ich hatte das Gefühl, dass ich das Äußerliche gelernt habe, aber damit allein gelassen werde. Als ich die Ankündigung zum Wahlpflichtfach las, dachte ich, das Thema ist in jedem Fach wichtig. Es wird im Studium unterrepräsentiert.

     

    Hat man als Mann größere Probleme, das Thema anzusprechen oder als Frau?

    Richter: In der Behandlung sollte man jedenfalls nach einer Geschlechterpräferenz des Opfers fragen. Es gibt auch Fälle, da sprechen Betroffene lieber mit einem Mann als mit einer Frau. Wichtig ist, dass man das Thema anspricht, egal, ob man Mann oder Frau ist. Wir waren froh, dass auch Männer am Seminar teilnahmen, wenn sie auch in der Minderheit waren. Das Thema wird leider häufig als Thema von Frauen für Frauen wahrgenommen. Man muss aber berücksichtigen, dass es nicht nur weibliche sondern auch männliche Opfer gibt. Im Gespräch schieben letztere Verletzungen aus Scham schon einmal auf eine Kneipenschlägerei. Die Opferrolle passt nicht in das männliche Rollenklischee.

    Pfleiderer: Männer – auch Ärzte – trauen sich tatsächlich weniger, das Thema anzusprechen. Aber diejenigen, die am Wahlpflichtfach teilnahmen, waren sehr offen. Es gibt so gut wie keine medizinische Disziplin, in der die häusliche Gewalt keine Rolle spielen würde. Ärztinnen und Ärzte aller Fachrichtungen sollten sensibilisiert sein, Hinweise auf häusliche Gewalt zu erkennen. Wir wollen aufzeigen, bei welchen Faktoren man hellhörig werden sollte. Haben wir diese erkannt, so sollte klar sein, was man als Nächstes tun sollte. Man fühlt sich besser dafür ausgebildet nicht mehr so alleingelassen. Ich glaube dabei, dass vielen Ärztinnen und Ärzten nicht bewusst ist, dass sie mögliche Ersthelfer sind. Dabei hatte fast jeder, der schon einmal Opfer war, Kontakt zum Arzt oder Ärztin. Studierenden sollte klar werden, dass sie sich im späteren Beruf nicht aus dieser Thematik he­rausziehen können.

     

    So gesehen ist ein Wahlpflichtfach ein Anfang. Müsste aber nicht mehr folgen?

    Klump: Ja, wenn man sich um die Gesundheit von Menschen kümmern will, dann muss man auch die häusliche Gewalt berücksichtigen. Das Problem ist aus meiner Sicht, dass es in der Lehre noch nicht präsent ist. Auch ist häusliche Gewalt nicht relevant für die Klausuren – und die meisten lernen genau das, was dort wichtig ist. Es wäre aber ein Thema, das den Studierenden menschlich sehr nahe gehen kann und es wäre wichtig, für diese Beschäftigung den Raum zu schaffen. Bei meiner Hausarzt-Famulatur habe ich folgendes gelernt: Übersieht man dort eine Krankheit und unterlässt einen Test, dann ist dies ein klarer Fehler. Dieses Vorgehen wird in der Lehre selten bezüglich Fällen häuslicher Gewalt thematisiert. Vielfach wird vermittelt, was man machen muss, um keinen Fehler zu machen. Das ist zu wenig, besonders dann, wenn es um häusliche Gewalt geht.

    Pfleiderer: Hinzu kommt, dass die Folgeerkrankungen häuslicher Gewalt selbstverständlich von Ärzten und Ärztinnen behandelt werden. Viele psychosomatische Erkrankungen oder auch unklare Schmerzzustände, Depressionen und Angsterkrankungen, Verletzungen des Kindes bereits im Mutterleib und ähnliches können häusliche Gewalt als Ursache haben. Wer so etwas behandelt, der sollte auch an häusliche Gewalt und wie man da­rauf reagieren sollte denken.

     

    Ändert sich hier etwas?

    Pfleiderer: Vieles ist noch der Initiative Einzelner überlassen. Ohne das EU-Projekt „Improving frontline responses to High Impact Domestic Violence“ (IMPRODOVA) wäre es auch mir als Einzelkämpferin schwergefallen, dies neben meinem Arbeitsalltag umzusetzen. Wenn man aber unser Material hat, dann wird man künftig dieses Wissen sich selbst erarbeiten und einsetzen können. Wir haben deswegen auch deutsche Materialien entwickelt, obwohl wir laut Projektbeschreibung nur englischsprachige hätten zur Verfügung stellen müssen. Trotz der Ratifizierung der Istanbul Konvention in Deutschland hat sich am Umgang mit häuslicher Gewalt wenig geändert. Sie hat zudem eine Schwäche. Sie redet fast nur von Frauen. Wir dürfen nicht vergessen, dass mindestens zwanzig Prozent der Opfer Männer sind. Jedes Opfer ist eines zu viel. Über Männer reden wir jedoch viel zu wenig. Sie gehen unter. Man redet immer vom Mann als Täter. Frauen schlagen seltener zu. Jedoch muss man nicht zuschlagen, um jemanden zu verletzen. Auch die nicht-körperliche verbale Gewalt verursacht Schmerzen. In Münster gibt es keine Schutzwohnung für Männer, in ganz Nordrhein-Westfalen eine einzige. Man macht es männlichen Opfern also noch schwerer als Frauen, Hilfe zu finden. Eine Ursache liegt im Selbstbild der Männer, das eine Rolle als Opfer nicht einschließt. Männer benötigen möglicherweise andere Zugangswege zur Hilfe als Frauen.

     

    Müsste häusliche ­Gewalt für alle Medizinstudierende verpflichtend sein?

    Pfleiderer: Aus meiner Sicht ja. Das Thema häusliche Gewalt muss Prüfungsstoff werden. Alle Medizinstudierenden sollten ein Wochenende zur Pflicht haben. Leider geht das Thema im klinischen Alltag zu schnell unter. Je mehr man darüber weiß, desto besser kann man Opfern helfen. Relevant ist das Thema schon deshalb, weil rund dreißig Prozent der Frauen Gewalterfahrungen haben. Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass Opfer oft später zu Tätern werden. Leid schafft neues Leid. Und mit dem Leid entstehen Kosten für das Gesundheitswesen und die Gesellschaft insgesamt.

    Klump: Ich glaube auch, dass es wichtig wäre, häusliche Gewalt zum Prüfungsstoff zu machen.

    Richter: In Umfragen haben wir gesehen, dass Ärzte ihren Versorgungsauftrag erfüllt sehen, wenn sie sich um die Verletzungen gekümmert haben, die durch häusliche Gewalt entstanden sind. Die Prävention weiterer Gewalttaten im gleichen Umfeld hat danach nicht immer den Stellenwert, den dies haben sollte. Ich glaube aber, dass eine bessere Vorbereitung auf das Thema den Arbeitsalltag erleichtern würde. Ansonsten geht man vielleicht nach Hause und denkt, man hätte mehr machen müssen.
    Pfleiderer: Zudem schafft der Drehtüreneffekt häufig Frus­tration: Das Opfer wird behandelt, geht nach Hause, wird erneut misshandelt, wird erneut behandelt – und das immer wieder und wieder. Erst über das Verständnis von dem, was dabei in einem Opfer vorgeht, bringt man die Geduld auf, ein solches Opfer nicht im Stich zu lassen und weiter ansprechbar zu bleiben. Der Helfende sollte niemals denken: Da kann man sowieso nichts machen.

     

    Ihr Material ist besonders für drei Zielgruppen gedacht ...

    Pfleiderer: Ja, es richtet sich insbesondere an die soziale Arbeit, an die Polizei und die Medizin.

    Kann die Zusammenarbeit mit der Polizei kritisch sein?

    Richter: Es gibt unterschiedliche Zielvorstellungen. Aber wenn es zum Beispiel um den Drehtüreneffekt geht, dann kann es für Ärzte ganz angenehm sein, dass sich die Polizei um den Täter kümmert. Es gibt natürlich den Fall, dass das Opfer etwas anderes will als die Polizei, die an Strafverfolgung interessiert ist. Wenn das Opfer den Täter verlässt, dann verlässt es jedoch gegebenenfalls auch den Vater ihrer Kinder und die größte Liebe ihres Lebens. In der Regel stellt ein Opfer erst nach der achten Straftat einen Strafantrag. Von diesen werden nur zehn bis 15 Prozent verurteilt. Diese Zahlen sind auch für die Opfer frustrierend und sie sind auch dort bekannt. Hier spielen Ärzte eine wichtige Rolle, die das, was sie diagnostizieren richtig dokumentieren müssen, damit ein Strafantrag vor Gericht überhaupt bestehen kann. Dort steht oft Aussage gegen Aussage. Die medizinische Expertise kann die Aussagen des Opfers stützen.

    Pfleiderer: Das Projekt hat auch eine bessere Zusammenarbeit der unterschiedlichen Ersthelfer-Gruppen zum Ziel. Wir können nur gemeinsam das Optimale für die Opfer erreichen. Es gibt Städte, in denen die Zusammenarbeit ganz gut in Form von Runden Tischen funktioniert. Jeder muss hier von seinem starren Tunnelblick weg. Ich glaube, der Erfolg liegt in multiprofessioneller Zusammenarbeit und darin, dass sich alle gegenseitig ergänzen.

    Klump: Die häusliche Gewalt war nun Thema eines Wahlpflichtfaches, obwohl man keine Wahl hat, weil man als Ärztin oder Arzt sowieso mit dem Thema konfrontiert wird, ob einem das gefällt oder nicht. Ich glaube, das Thema sollte generell im Studium umgesetzt werden – zum Beispiel wenn wir in Münster Patientengespräche nachstellen. Man lernt das Überbringen von schlechten Nachrichten, aber der Umgang mit diesem schwierigen Thema bleibt unerwähnt. Das sollte sich ändern.


    Erschienen in MBZ-Ausgabe 12/2020

    Infos für alle Mediziner
    Das Material ist komplett frei. Unter anderem ist dabei „Häusliche Gewalt im Gesundheitssektor in 15 Minuten“ für alle die nicht mehr Zeit haben. Zudem gibt es ausführliches Material für die verschiedenen Zielgruppen. Es ist auch zum Selbststudium geeignet. Eine vorläufige Version ist unter https://training.improdova.eu/de/ zu finden. Anfang September wird dies vollständig sein