• Hoffen auf Normalität

    Dr. med. Hans-Albert Gehle: Impfen ist für Jedermann eine moralische Selbstverpflichtung
    21.Dezember 2021
    2021 neigt sich dem Ende zu. Zu Jahresbeginn erfüllten sich unsere großen Hoffnungen, dass wir einen Impfstoff gegen Corona erhalten. Das Impfen startete in NRW und RLP jedoch nicht so reibungslos und schnell, wie wir es erwartet haben. Es gab aus ärztlicher Sicht vieles zu kritisieren: unverlässliche Abläufe, immer wieder Impfstoffmangel, eine oft missglückte Kommunikation oder bedenkliche Priorisierungspläne. Zumindest blicken Geimpfte seither aber mit weniger Risiken und Ängsten in die Zukunft.

    Bald 140 Millionen Impfungen wurden hierzulande verabreicht. Täglich aktuell bis zu 1,5 Millionen. Eine großartige Leistung aller Beteiligten. Das ist aber lange noch nicht genug. Für die Normalität müssen wir mehr tun. Zu viele Menschen sind noch immer ungeimpft. Millionen Doppelt-Geimpfte brauchen einen Booster. Von einer Normalität sind wir deshalb - trotz einem Jahr des Impfens - noch leider weit entfernt.

    Rudolf Henke warnte im März „Lockerungen sollten uns nicht zu locker zu machen“. Im Juli mahnte ich: „Jeder Einzelne trägt Verantwortung. Wir laufen gerade Gefahr, dass eine dem Wahlkampf geschuldete Lockerungspolitik wieder tausende Neuinfektionen verursacht.“ Viele Wissenschaftler sahen es ebenso. Warnungen wurden nicht ausreichend berücksichtigt.

    Im November sind die Politiker plötzlich erschrocken ob der immer neuen Rekorde bei den täglichen Infektionszahlen. Das von Ärzten und Wissenschaftlern vorhergesagte Vermeidliche traf ein: Kliniken erreichten ihre Kapazitätsgrenzen, planbare OPs müssen verschoben und Covid-Patienten quer durch das Bundesgebiet verlegt werden. Viele Ärztinnen und Ärzte haben nach eineinhalb Jahren extremer Belastung ihre persönlichen Grenzen erreicht, verlassen die Kliniken. Unsere Betten-Kapazitäten sanken.

    Im Herbst ist wieder nicht genug viel Impfstoff vorhanden. Politische Rationierungen ließen die Impfkampagne stocken. Die Lage in den Kliniken wird immer ernster. Eine neue Virusvariante droht die Infektionen weiter in noch erschreckendere Höhen zu treiben. Neue Versprechungen aus Berlin: 30 Millionen Impfungen bis zum Jahresende - ein sehr ambitioniertes Ziel.

    Eine Inventur offenbart neues Unvermögen in der Politik: Es wurde nicht genug Impfstoff bestellt. Schon zum Beginn 2022 steuern wir laut BMG wieder auf einen Impfstoffmangel zu. Expertisen gibt es längst genug. Nur an Impfwilligen, am Impfstoff, an wirksamen Medikamenten und dem vorausschauenden Handeln der Politik mangelt es.

    Wann wird eine Rückkehr zur Normalität möglich? Wir haben von Anfang an gewarnt, dass die Pandemie drei Jahre und mehr andauern wird. Normalität ist so schnell - wie viele noch zu Jahresbeginn gehofft haben - nicht zu erwarten. Vollmundige Prophezeiungen von Politikern sind nicht realistisch. Sicher ist: Mit einer über 80-prozentigen Impfquote ließe sich eine Pandemie besser bewältigen. Manche Bundesländer liegen aber noch unter 70 Prozent. Sie bilanzieren die höchsten Infektionszahlen. Zu viele Menschen verharmlosen oder ignorieren gar die hohen Gefahren der Covid-19-Viren für Ihre Gesundheit.

    Impfen ist für Jedermann eine moralische Selbstverpflichtung. Angesichts von gut 15 Millionen Ungeimpften und steigender Corona-Infektionen sprachen sich die Landesärztekammer RLP und Ärztekammer Westfalen-Lippe unlängst für eine allgemeine Impfpflicht aus. Wir werden in den Kliniken noch länger durchhalten müssen.

    Corona ist nicht das einzige große Thema: Im Juli führte ein verheerender Starkregen zur Katastrophe - über 180 Tote waren zu beklagen. Neun Kliniken mussten evakuiert oder ihr OP-Betrieb eingestellt werden. Zahllose Praxen wurden zerstört. Der Klinikbetrieb im Umfeld lief fortan am Limit. Wir erlebten eine vorbildliche Hilfs- und Spendenbereitschaft. Die alltägliche Versorgung in den Flutgebieten wurde durch engagierte Ärztinnen und Ärzte gesichert.

    Egal ob Epidemien oder Naturkatstrophen. Wir fordern seit Jahren für solche Herausforderungen eine ausreichende Vorhaltung medizinischer Kapazitäten. Vergeblich. Die Pandemie hat die Schwachstellen schonungslos offengelegt. Dennoch müssen wir noch immer darauf warten, dass die Politik ihrer Verantwortung endlich gerecht wird.

    Wir wollen nicht mehr in einem Gesundheitssystem arbeiten, das auf Kante genäht ist, unser Ethos missbraucht wird, wo eine immer stärkere Kommerzialisierung das unabhängige ärztliche Handeln beeinträchtigt. Wir stehen täglich in persönlicher Verantwortung gegenüber unseren Patienten. Wir haben verstanden, dass wir nur im gemeinsamen Handeln die Krise bewältigen können. Solange Politiker aber lieber in Talkshows auftreten, sich dort politische Scharmützel leisten, statt von uns zu lernen, ist ein Ende der Pandemie nicht absehbar.