• Muss man das System wirklich vor die Wand fahren bis Politiker agieren?

    Berufspolitischer Abend auf Borkum | Dr. med. Susanne Johna stößt lebhafte Debatte an
    08.Mai 2023
    Borkum (mhe). Mit einer schonungslosen Analyse des deutschen Gesundheitswesens entfachte die MB-Vorsitzende Dr. med. Susanne Johna beim diesjährigen „Berufspolitischen Abend“ des Marburger Bundes auf Borkum eine gut zweistündige, lebhafte Debatte. Es war einer der Höhepunkte des 77. Fort-und Weiterbildungskongresses der ÄKWL/KVWL auf der Nordseeinsel, an dem über 1.700 Ärztinnen und Ärzte teilnahmen. „Wir müssen uns ernsthaft fragen, ist es notwendig und richtig, dass wir in Deutschland - im Vergleich zu anderen Ländern - so viele Behandlungsfälle in Krankenhäusern haben“, eröffnet Dr. Susanne Johna vor über 70 Zuhörern ihren Vortrag. Die Oberärztin für Krankenhaushygiene im Sankt Josefs-Hospital in Rüdesheim verwies auf den gravierenden Fachkräftemangel, auf den wir hierzulande immer stärker zusteuern: „Die Babyboomer scheiden aus.“

    22 Prozent der Ärztinnen und Ärzte gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand

    Die Gesellschaft wird älter und die demographische Entwicklung betrifft die gesamte Ärzteschaft. „Fast 90.000 Ärztinnen und Ärzte gehen in nächster Zeit altersbedingt in den Ruhestand. Das sind immerhin 22 Prozent der derzeitigen berufstätigen Ärztinnen und Ärzte. Über 36.000 Vertragsärztinnen und -ärzte sind heute älter als 60 Jahre“, bilanzierte Dr. Johna. Schon seit Jahren ist der Mangel an Ärztinnen und Ärzten nicht zu übersehen. „Ohne unsere Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland könnten wir die Versorgung hierzulande gar nicht mehr aufrechterhalten.“ Das Abwerben von Ärztinnen und Ärzten aus anderen Ländern sei ethisch zu hinterfragen.

    Pflege am Limit – enormer Bedarf

    Auch in der Pflege mangelt es allerorts. „Es gibt einen enormen Bedarf. Die Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen arbeiten am Limit. Im internationalen Vergleich lagen sie 2018 bei uns mit 13 zu betreuenden Patienten in Europa an der Spitze. In Großbritannien waren es 8,6, in der Schweiz 7,9, in Schweden 7,7 und in den Niederlanden 6,9 Patienten.

    Zugleich nimmt die Zahl der Patienten stetig zu: „Wir haben rekordverdächtige 20.332 stationäre Fälle pro 100.000 Einwohner. In den vergangenen 15 Jahre hatten wir eine massive Steigerung bei Schlaganfällen, Herzinfarkten, Makuladegeneration und Demenzerkrankungen zu verzeichnen; ein Ende ist hier nicht abzusehen.“

    „Die jährlichen Ausgaben in unserem Gesundheitswesen summieren sich mittlerweile auf 500 Milliarden Euro, das sind mehr als 1,3 Milliarden täglich. Dennoch, wie sehen unser Kliniken aus? Es gibt einen hohen Investitionsbedarf in die Gebäudestruktur, doch seit Jahrzehnten zahlen die dafür verantwortlichen Bundesländer deutlich zu wenig Investitionsförderung. Nebenbei: Von klimagerechten Gebäuden sind wir noch meilenweit entfernt“, beklagte Dr. Johna. Bedauerlicherweise habe man auch durch die Digitalisierung bisher nichts gewonnen.

    Unbefriedigende Arbeitsbedingungen - Teilzeitquote steigt

    „Beim Ärztemangel läuft uns die Zeit davon. Unsere Umfragen bestätigen immer wieder unbefriedigende Arbeitsbedingungen. So schaffen etwa ältere Kolleginnen und Kollegen keine Rufbereitschaften oder Nachtdienste mehr. Wir brauchen auch eine altersgerechte Arbeitsgestaltung. Insgesamt nimmt die Arbeitsverdichtung zu und es müssen zu viele Überstunden geleistet werden“, so Dr. Johna.

    Das Berufs- und Familienleben seien selten zu vereinbaren und die Bürokratie raube immer mehr die erforderliche Zeit für Patienten. An allen Punkten müsse man ansetzen, mit vielen kleinen Schritten könnten notwendige Veränderungen erreicht werden. „Würden wir allein die Bürokratie halbieren, hätten wir sofort rechnerisch 32.000 Ärztinnen und Ärzte für die Patientenversorgung gewonnen“, erklärte Dr. Susanne Johna.

    Arztberuf darf nicht zum reinen Dienstleister verkommen

    Ein ganz wesentlicher Punkt sei, dass die sich verstärkende Ökonomisierung der Medizin es Ärztinnen und Ärzten immer schwieriger mache, noch den Fokus auf den Patienten zu richten. „Angesichts dieser Fakten dürfen wir uns nicht wundern, dass immer öfter die Kolleginnen und Kollegen in Teilzeitbeschäftigungen wechseln oder aus dem Beruf aussteigen wollen“, mahnte Dr. Susanne Johna.

    „Allein im ambulanten Sektor habe sich die Teilzeitquote von vier Prozent im Jahr 2009 bis auf 31 Prozent im Jahr 2021 erhöht. Nach MB-Umfragen erwägt jede vierte Ärztin und Arzt, den Beruf aufzugeben. „Wir sollten verhindern, dass der Beruf des Arztes zu einem reinen Dienstleister verkommt.“ Höchste Zeit zu handeln.

    In der Debatte betonten Ärzte, dass man traurigerweise das System wohl erst vor die Wand fahren müsse, um Veränderungswillen in der Politik zu erreichen. „Wir müssen endlich die Systemfrage stellen. So können wir uns etwa doppelte Versorgungsstrukturen nicht mehr leisten.“ Ein klares Bekenntnis zum Ausbau der sektorübergreifenden Versorgung formulierte KVWL-Vorstandsvorsitzender Dr. Dirk Spelmeyer: „Die Zeit, in der wir Angst vor dem anderen Bereich hatten, ist glücklicherweise vorbei.“ Zweifellos müsse auch das ambulante Operieren in Kliniken ausgebaut werden. Äußerungen, die so noch vor einigen Jahren nicht denkbar gewesen wären.

    Wozu der Personalmangel, Ökonomisierungsdruck und die Schwächen von Vorgesetzten führen können, belegte ein erschütternder Einzelfall: Eine junge Ärztin berichtete, dass überraschend mehrere planbare Operationen nachts angesetzt wurden. Nach ihrem 20-stündigen Dienst kam noch eine schwer verletzte Frau in die Notaufnahme, die stundenlang operiert werden musste. „Das ist für mich der Grund, warum ich mein Beruf aufgeben möchte. Wissen Sie, warum sich unser System nicht verändert?“, fragte die Ärztin und gab nach Sekunden des Schweigens selbst die Antwort: „Die Patientin hat überlebt.“

    Offensichtlich kein Einzelfall: Eine weitere junge Ärztin berichtete von ihren 30-Stunden-Diensten, die sie machen müsse. Eine unerwartete Bestätigung untragbarer Zustände. Kammerpräsident Dr. med. Hans-Albert Gehle bedankte sich für den Mut, über diese Situationen offen zu sprechen und brachte das Problem auf den Punkt: „Es ist nicht Ihre Aufgabe, das in Ihrem Krankenhaus anders zu regeln. Das ist schlicht die Aufgabe Ihres Oberarztes oder Chefarztes. Die müssen die Courage haben, so etwas nicht zuzulassen.“ Auch Prof. Dr. Dr. Hugo van Aken richtete sich an die junge Ärztin: „Geben Sie nicht auf. Tun Sie das bitte nicht, denn Sie persönlich haben doch genau das Richtige getan, damit die Patientin überlebt.“