• Unser Anspruch

    Kommentar von Dr. med. Hans-Albert Gehle zur Debatte um medizinische Notfälle
    20.April 2023
    „Wer noch selbst in die Notaufnahme gehen kann, ist oft kein echter medizinischer Notfall!“ Mit diesem markigen Satz hat KBV-Chef Andreas Gassen die mediale Aufmerksamkeit auf die schon seit vielen Jahren überlasteten Notaufnahmen in Krankenhäusern gelenkt. Neue Gebühren sollen Patienten in ihrer echten oder vermeintlichen Notlage drastisch zur Einsicht zwingen, wirft Gassen unverblümt in die jahrelange Debatte. Dieses Rezept des obersten Kassenarztes erinnert an die 2004 eingeführte und schon nach wenigen Jahren gescheiterte Praxisgebühr – wir halten es ebenso wenig für angebracht noch für zielführend. Schlagwort-Debatten über Vollkasko-Mentalitäten in der Bevölkerung helfen niemanden bei der Suche nach sinnvolleren Versorgungsmodellen weiter. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die KBV einst massiv gegen den hohen Verwaltungsaufwand der bis 2012 erhobenen Praxisgebühr, die jeder Patient schon bei seinem ersten Arztbesuch im Quartal bezahlen musste, gewettert hat.

    Statt neue Gebühren zu erheben, brauchen wir grundsätzliche Klarheit. Es ist unser ärztlicher Anspruch, dass sich jeder Patient zu jeder Zeit und an jedem Ort auf eine qualitativ hochwertige Notfallbehandlung verlassen können muss. Jede Patientensteuerung muss zu einer medizinischen und zeitgerechten Behandlung durch eine Ärztin oder einen Arzt führen. 

    Wir haben unter diesen Prämissen vor sechs Jahren gemeinsam mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung eine sachliche Debatte über die Neuorganisation der Notfallversorgung geführt. Wir haben uns für eine bessere Zusammenarbeit des ambulanten und stationären Sektors und für mehr Integration entschieden. Dabei müssen Krankenhäuser eine ganz zentrale Rolle spielen, weil sonst niemand die Notfallversorgung täglich rund um die Uhr leistet, waren wir uns 2017 in einem Konzeptpapier und auf unserer Hauptversammlung in Köln einig. 

    Realität ist: Bei ambulanten Notfallpraxen war in den vergangenen Jahren vielerorts ein Kahlschlag zu beobachten. Flächendeckend müssten Notfallpraxen von 8 bis 18 Uhr geöffnet sein. In den übrigen Stunden bleiben für Notfälle ohnehin nur Kliniken als Anlaufstation geöffnet. Patientenströme fließen immer stärker in der Not direkt ins Krankenhaus. Auch tagsüber sind Kliniken mit Notfällen überlastet, weil Patienten ihren niedergelassenen Arzt nicht erreichen oder zu lange auf Facharzttermine warten müssen. 

    Die KVen müssten deutlich aktiver werden, um den örtlichen Bedarf im ambulanten Bereich abzudecken. Zum Beispiel aber auch die Bevölkerung verstärkt aufklären, was eigentlich ein Notfall ist? 

    Fakt ist, dass sich die Patientenzahlen in stationären Notfallambulanzen in den vergangenen Jahren stetig drastisch erhöht haben. Wir Klinikärztinnen und -ärzte erleben dadurch seit Jahren eine hohe Arbeitsbelastung. Die gilt es abzubauen. Zweifellos könnten viele „Notfälle“ ambulant ausreichend gut versorgt werden, wenn denn die ambulante Notfallversorgung auch flächendeckend und täglich rund um die Uhr vorhanden wäre. 

    Wir haben deshalb in den vergangenen Jahren dafür plädiert, dass die Zukunft der Notfallversorgung in gemeinsame Notfallleitstellen und in integrierte Notfallzentralen in Krankenhäusern gehört. Die ambulante und stationäre Notfallversorgung soll über einem Tresen – etwa in einer Portalpraxis – organisiert werde. Dort muss entschieden werden, in welchen Versorgungssektor der Patient gehört. Das ist richtig und das war politischer Konsens. 

    Das Modell der Portalpraxis, die als Schnittstelle zwischen ambulantem und stationärem Sektor eine gezielte Steuerung von Patienten im Notfall ermöglicht, gilt in NRW seit Ende des Vorjahres offiziell als flächendeckend eingeführt. Tatsächlich gibt es aber noch zahlreiche Lücken, die es dringend zu schließen gilt. In ländlicheren Regionen sind Notdienststrukturen zunehmend weniger vorhanden.

    Portalpraxen führen zwei Welten an einem gemeinsamen Tresen zusammen, können so für massive Entlastungen sorgen. Käme nun die Krankenhausreform aus Berlin so, wie angedacht, würden zu viele Krankenhäuser soweit auf unterste Level herabgestuft, dass zu befürchten ist, dass auch die stationäre Notfallversorgung vielerorts kaum noch gewährt sein wird. 

    Ob die Patienten künftig – insbesondere im ländlichen Raum – im Notfall noch durch eine Ärztin oder einen Arzt eine medizinische und zeitgerechte Behandlung erhalten, erscheint aktuell mehr als fraglich. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) will zur Jahresmitte eine Lösung vorlegen, wer darüber entscheiden darf, wie dringlich ein Notfall ist? 

    Offen scheint noch zu sein, welche Qualifikation ärztliches oder pflegerisches Personal haben muss, um den Zustand eines Notfallpatienten zu prüfen. Ebenfalls noch nicht entschieden ist, wie die fünf angedachten Dringlichkeitsstufen genau ausgestaltet sein werden. Unklar ist zu guter Letzt, ob zukünftig sogar künstliche Intelligenz bei der Ersteinschätzung am Telefon eingesetzt werden darf. 

    Wir werden diese Entwicklung als Ärzteschaft sehr genau beobachten müssen, damit unsere Patienten auch im Notfall weiterhin die beste nötige medizinische Versorgung erhalten.