• Was jetzt ethisch geboten ist

    Kammerpräsident Rudolf Henke: Endlich genügend Schutzausrüstung bereitstellen / Alle Kräfte bündeln / Beeindruckende Hilfsbereitschaft von Medizinstudenten / Jeder Bürger ist bei Eindämmung gefordert
    02.April 2020
    Düsseldorf. "Es ist gut, dass sich der Deutsche Ethikrat und mehrere medizinische Fachgesellschaften mit ethischen Fragen befasst haben, die sich aus der aktuellen Coronavirus-Pandemie ergeben. Denn diese Pandemie bringt weltweit bereits jetzt Ärztinnen und Ärzte wie auch die Angehörigen der anderen Gesundheitsberufe in schwierigste ethische Grenzsituationen. Dazu gehört in einer wachsenden Zahl von Ländern das Problem, dass die intensivmedizinischen Kapazitäten nicht mehr für alle ausreichen, die eine solche Behandlung eigentlich nötig hätten. In Deutschland sind wir dank eines im internationalen Vergleich starken Gesundheitssystems und aufgrund etlicher in den letzten Wochen ergriffenen Maßnahmen bisher nicht in dieser Situation", erklärt Rudolf Henke.

    "Alle Anstrengung in Deutschland müssen deshalb dem Ziel gelten, dass auch in der bevorstehenden Zeit möglichst alle Menschen die Behandlung bekommen können, die sie unter medizinischen Gesichtspunkten benötigen. Das hat der Deutsche Ethikrat zu Recht betont. Dazu gehört zuallererst die entschiedene Umsetzung der auf den Weg gebrachten Maßnahmen, um die weitere Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen. Hier sind wir alle, die ganze Gesellschaft und jede einzelne Bürgerin, jeder einzelne Bürger gefordert. 

    Die prinzipiell berechtigten Vor-Überlegungen, wann und wie zukünftig Einschränkungen auch wieder zurückgenommen werden könnten, dürfen nicht dazu führen, dass es in der Öffentlichkeit zu Zweifeln an der unbedingten Notwendigkeit der jetzt ergriffenen Maßnahmen kommt. Wichtig ist der Hinweis des Ethikrates auf das Potential, das in der Steigerung der Testkapazitäten liegt. Es ist gut, dass dazu in der Bundesregierung konkrete Pläne entwickelt werden. Wir brauchen mehr Schnelltests und wir brauchen möglichst bald verlässliche Antikörpertests.

    Es ist außerdem eine ethische Verpflichtung, dass wir im Gesundheitswesen alle Kräfte bündeln und möglichst zielgerichtet und ressourcenschonend einsetzen.  Untersuchungen und Eingriffe, die nicht unbedingt nötig oder nicht dringlich sind, müssen verschoben werden, im stationären wie auch im ambulanten Bereich. Wer dadurch weniger zu tun hat, gehört als Angehöriger der Gesundheitsberufe nicht in die Kurzarbeit, sondern an die Stellen, wo dringend Hilfe gebraucht wird.  Und alle müssen zusammenarbeiten. Abgrenzungen und Empfindlichkeiten zwischen den Versorgungssektoren dürfen jetzt keine Rolle mehr spielen. Stattdessen gilt es, zu helfen, wo Hilfe gebraucht wird.

    Das gilt auch für die Hilfe, die weniger stark betroffene Regionen den am stärksten betroffenen Regionen leisten können, auch über Ländergrenzen hinweg. Es beeindruckt mich, dass viele Ärztinnen und Ärzte, die eigentlich schon im wohlverdienten Ruhestand sind, nun ihre Bereitschaft erklärt haben, mitzuhelfen. Und viele Aktive – egal, ob in Vollzeit oder in Teilzeit - fragen derzeit nicht mehr nach der Zahl der Stunden. 

    Dieser Einsatz verdient nicht nur Dank. Es ist eine ethische Pflicht für die Gesellschaft, diejenigen konkret zu unterstützen, die im Gesundheitswesen derzeit alles geben – sei es in den Gesundheitsämtern, in den Kliniken, in den Praxen, den Pflegeheimen und an vielen anderen Stellen.

    Deswegen muss weiter alles nur Erdenkliche unternommen werden, um endlich genügend Schutzausrüstung bereitzustellen. Hier liegt nach wie vor unser aktuell größtes Problem, auch wenn sich eine Entlastung abzuzeichnen beginnt. Doch es muss mehr passieren. Firmen müssen ihre Produktion umstellen, so wie das bereits an einigen Stellen geschieht. Auch die Produktion und Beschaffung von Beatmungsgeräten und weiterem erforderlichen Material (u.a. Tuben, Schläuche, Perfusoren, Sauerstoffflaschen) muss jetzt höchste Priorität haben, damit die, die helfen wollen, auch helfen können. Dazu gehört auch der rasche Aufbau einer entsprechenden Versorgungslogistik.

    Schließlich ist jetzt die Zeit, um alle unnötige Bürokratie beiseitezulassen. Und auch das, was unter normalen Umständen für erforderlich gehalten wird, muss in dieser Situation auch unter ethischen Gesichtspunkten auf den Prüfstand gestellt werden. 

    Ich wünsche mir, dass wir die MDK-Prüfungen für die nächste Zeit beiseitelassen. Solange wir noch Ärztinnen und Ärzte bei den Medizinischen Diensten und in den Krankenhäusern mit dem Kampf um Rechnungsprüfungen beschäftigen, klingt die Debatte um fehlendes Personal für die Versorgung Schwerstkranker für mich hohl. Hier ist nicht nur die Politik in der Pflicht, sondern auch Krankenkassen und Krankenhausverwaltungen.

    Ich bin überzeugt: Wenn alle die Bereitschaft zu mutigen Schritten aufbringen, haben wir noch einiges Potential, um uns den kommenden Herausforderungen entgegenzustellen.

    Viele richtige Schritte sind in dieser Woche in der Gesetzgebung bereits getan worden. Weitere werden folgen müssen, auch mit Blick auf Prüfungen und Fristen.  Unser größtes Pfund aber bleiben die Hilfsbereitschaft und Solidarität im Gesundheitswesen und in der Gesellschaft. Mich beeindruckt in diesem Zusammenhang auch die große Einsatzbereitschaft der Medizinstudierenden. Es ist unsere ethische Pflicht, es ihnen leicht zu machen.  Wer sich einsetzt, egal ob als Ärztin oder Arzt, als Angehöriger eines anderen Gesundheitsberufs, im Studium oder in der Ausbildung oder in der ehrenamtlichen Hilfe, muss sich auf einen unkomplizierten Unfall- und Haftpflichtversicherungsschutz verlassen können. Und wir müssen dafür sorgen, dass der Beruf, das Studium oder die Ausbildung einen guten Fortgang finden kann, wenn die Zeit der Hilfe zu Ende geht. Der Ethikrat nennt noch weitere Maßnahmen zu Abwendung einer kritischen Unterversorgung, die so weit als möglich umgesetzt werden sollten. 

    Eins muss jedenfalls klar sein: Erst wenn wir wirklich alles unternommen haben, was uns zu Gebote steht, um die Versorgung aufrechtzuerhalten, darf es in Deutschland um die Frage gehen, wie wir Auswahlentscheidungen unter existentieller Knappheit von Hilfsmitteln oder Personal treffen.

    Gleichwohl ist es richtig, sich rechtzeitig auf die Prinzipien zu besinnen, die in einer solchen Lage Orientierung bieten können. Dazu gehört vor allem der Grundsatz, dass kein Menschenleben mehr wert ist als ein anderes. Der Ethikrat und die medizinischen Fachgesellschaften halten deswegen zu Recht fest, dass Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden dürfen. Eine Entscheidung allein aufgrund des kalendarischen Alters, nach „Wert“ oder Dauer des Lebens oder gar nach sozialen Kriterien kommt deswegen nicht in Frage.

    Aus diesem grundsätzlichen Respekt vor dem menschlichen Leben leitet sich die zentrale Bedeutung der Individualität und des Selbstbestimmungsrechtes jeder Patientin und jedes Patienten ab, wie dies die Fachgesellschaften richtig betonen. Entscheidungen müssen für Patienten und Angehörige möglichst transparent sein und angemessen kommuniziert werden. 

    Die von den Fachgesellschaften aufgezeigten Orientierungen, wie wir sie aus der Katastrophenmedizin kennen, können dabei eine Hilfe sein. Sie dürfen aber nicht als „Schema“ missverstanden werden, das quasi algorithmisch zu einem „richtigen“ Ergebnis im Einzelfall führen könnte.

    Ich teile auch die Skepsis des Deutschen Ethikrates mit Blick darauf, ob es überhaupt vertretbar sein kann, bei einem Patienten eine weiter erforderliche Intensivtherapie zu beenden, um sie einem anderen Patienten mit besseren „Erfolgsaussichten“ zukommen zu lassen.  Umso wichtiger ist: Keine Ärztin, kein Arzt sollte schwierige ethische Entscheidungen allein schultern müssen. Die Forderung der Fachgesellschaften nach einer Entscheidungsfindung in multiprofessionellen Teams ist deswegen richtig.  Genauso richtig ist der Hinweis auf zusätzliche ethische Beratungsangebote. Auch die Ärztekammer Nordrhein bietet für ihre Mitglieder eine solche Unterstützung über ihr Ethik-Komitee an."