• „Wir sind noch nicht über dem Berg!“

    ÄKWL-Präsident Dr. med. Hans-Albert Gehle warnt vor zu großer Sorglosigkeit
    30.Juni 2021
    Münster (mhe). Es ist kaum zu übersehen: Nach eineinhalb Jahren mit vielen Einschränkungen der individuellen Freiheit macht sich mit den sinkenden Inzidenzzahlen zusehends Sorglosigkeit in der Bevölkerung breit. Gleich zu Beginn seines Berichtes zur Lage sprach der Präsident der Ärztekammer-Westfalen-Lippe (ÄKWL), Dr. med. Hans-Albert Gehle, in der 5. Kammerversammlung der ÄKWL in der Halle Münsterland daher Klartext: „Die gute Nachricht: Inzwischen ist die dritte Welle gebrochen. Aber, das heißt, wir sind noch nicht über den Berg, die Pandemie ist nicht vorbei. Sinkende Inzidenzen und Todeszahlen, Fortschritte – wenn auch langsam – beim Impfen, vorsichtige Öffnungsschritte – bei allem Optimismus, aber wir sind noch mitten in der Pandemie!“

    Es mangelt noch an wirksamen Medikamenten gegen Covid-19

    Deren Bekämpfung ruhe auf folgenden Säulen: „Disziplin, Kontaktvermeidung, Hygieneregeln, Testen, wo sinnvoll und nötig, Impfen und nochmals Impfen sowie – und hier sind wir leider noch nicht sehr weit – Entwicklung wirksamer Medikamente gegen das Virus“, erklärte Gehle weiter.

    „Beim Thema Impfen kommen wir also voran – wenn auch leider viel zu langsam. Für einen weitgehenden Verzicht auf Einschränkungen müssten mindestens 80 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sein, wie RKI-Präsident Lothar Wieler Anfang Juni sagte. Wir müssen mit dem Impfen schneller sein als die Mutanten.“

    Leere Versprechungen der Politiker schaffen kein Vertrauen

    „Alles richtig, aber der Ball liegt eindeutig im Feld der politisch Verantwortlichen. Ich erinnere an das Anfang April von der Bundesregierung gegebene Versprechen, dass jeder Erwachsene in Deutschland ein Impfangebot bis Ende des Sommers erhalten soll. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn äußerte noch unlängst in der Talkshow „Anne Will“, dass bis Mitte Juli 90 Prozent aller impfwilligen Erwachsenen geimpft sein könnten. Und korrigierte eine Woche später seine Aussage auf 80 Prozent. Ja, was denn nun?

    Versprechungen sind das eine, Lieferungen ausreichender Impfstoffmengen das andere. Was aber einmal als leere Versprechung entlarvt ist, schafft kein Vertrauen, sondern zerstört es! Und zwar nachhaltig!“, betonte der westfälisch-lippische Kammerpräsident.

    Impfstoffmangel löst immensen administrativen Aufwand aus

    „Impfen, was geht, ist die Devise. Und deshalb war und ist die Aufhebung der Priorisierung richtig.“ Gehle erinnerte an den entsprechenden Beschluss des Kammervorstands aus dem April. Dies ist natürlich immer geknüpft an die Bedingung ausreichender und verlässlicher Impfstofflieferungen. Das und nicht die Aufhebung der Priorisierung hat insbesondere die niedergelassenen Hausärzte oft vor große Probleme gestellt.

    Kommt die Menge, die ich bestellt habe? Und wann? Impfstoff ist eben leider immer noch knappes Gut. Es ist immer noch eine Verteilung des Mangels. Wenn dann die Zahl der gelieferten Impfdosen deutlich unter der der bestellten liegt, löst das natürlich einen immensen administrativen Aufwand aus: Impftermine müssen abgesagt werden, enttäuschte und frustrierte Impfwillige laden ihren Ärger beim Praxispersonal ab, Menschen, die Impftermine buchen wollen, blockieren die Leitungen der Praxen.

    Die Impfkampagne ist viel zu kompliziert, bürokratisch und unberechenbar

    Aber, auch da wo Impfstoff vorhanden ist, gibt es Reformbedarf: „Alle, die in die Impfstrategie eingebunden sind, können ein Lied davon singen, wie kompliziert, bürokratisch und unberechenbar diese ganze Aktion ist.“

    Und noch etwas. Impfen darf nicht zum Gegenstand politischer oder gar wahltaktischer Überlegungen werden. Bei allem Verständnis für die Vorfreude der Bürger auf die Sommerferien. Impfen ist nicht der Startschuss für den Urlaub! Auch die anstehenden wichtigen Entscheidungen beispielsweise über Impfabstände, Impfauffrischungen oder die Impfungen von Kindern und Jugendlichen dürfen nicht ins Räderwerk populistischer Politik geraten, sondern sind auf wissenschaftlicher Basis zu treffen. Infektiologie ist nun einmal Wissenschaft und keine Politik!

    Dr. med. Hans Gehle äußerte sich – in seiner von zahlreichen Delegierten aller Fraktion am Ende hoch gelobten Rede – weiter zum Klima, zur Digitalisierung, zur Suizidassistenz, Notfallversorgung und zur finanziellen Situation der Krankenhäuser. Darüber werden wir in der nächsten MBZ-Ausgabe berichten.